Und damit, dass Nathalie, sein ganzer Stolz, erwachsen wurde, ohne dass er etwas dagegen tun konnte, kam er schon gar nicht zurecht.
Niemand merkte etwas, weder die Klassenkameraden noch die Lehrer. Die Freundinnen ihres Vaters ahnten es bestimmt, aber keine von ihnen kam ihr zu Hilfe, und wenn die Beziehung vorbei war, sah Nathalie sie nie wieder. Auch den Nachbarn dürften die lautstarken Zornausbrüche ihres Vaters nicht verborgen geblieben sein, doch keiner sprach sie je darauf an. Cécile studierte inzwischen in Amsterdam und rief nur alle paar Monate einmal an. Aber da sie weit weg wohnte und ohnehin nichts für sie tun konnte, antwortete Nathalie nur ausweichend auf ihre Fragen.
Wenn der Vater sie schlug, achtete er perfiderweise darauf, dass die Spuren nicht auffielen. Die blauen Flecken am Körper konnte Nathalie mühelos unter der Kleidung verbergen, die seelischen Wunden waren ohnehin unsichtbar.
Im Nachhinein versteht sie selbst nicht, warum sie sich nie jemandem anvertraut hat. Wahrscheinlich aus Scham. Oder weil ihr Vater sich jedes Mal, wenn er sie geschlagen hatte, wortreich dafür entschuldigte und danach eine gute Woche besonders nett und liebevoll war. In diesen Phasen war die Welt wieder in Ordnung, und trotz allem liebte Nathalie ihren Vater, zumal sie ja nur ihn hatte. Sie gab sich alle Mühe, nichts zu tun, was ihn aufregte und dazu brachte, seine andere Seite zu zeigen. Aber es nützte wenig, er schlug immer wieder zu.
Julia wohnt in der Koninginnelaan, in einer hellen, geräumigen Eigentumswohnung am Ende einer Reihe moderner Häuser mit breiten Glasfronten. Von hier aus hat sie es nicht weit in die Stadt, und zur Arbeit kann sie ohne Weiteres zu Fuß gehen, aber meist fährt sie mit dem Rad. Das Auto nimmt sie nur selten; eigentlich steht es die ganze Woche über ungenutzt vor dem Haus. Im Grunde braucht sie kein Auto, aber verkaufen will sie es dennoch nicht.
Das Auto ist so ziemlich der einzige Luxus, den Julia sich gönnt. Kneipenbesuche locken sie nicht, ins Kino geht sie allenfalls ein, zweimal im Jahr, sie raucht nicht, trinkt wenig Alkohol und hat keine kostspieligen Hobbys.
Dank ihrer Sparsamkeit konnte sie sich die relativ teure Wohnung unweit der Innenstadt kaufen. Sie hält sich gern zu Hause auf und genießt im Sommer den kleinen Garten hinter dem Haus, in dem ihr schwarzer Kater Morf den lieben langen Tag herumstromert und sein Revier bewacht.
Kaum hat sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen, kommt er auch schon an und streicht ihr um die Beine.
»Na, mein Guter, hast du Hunger? Warte, gleich kriegst du was.«
Julia geht in die Küche, öffnet eine Dose Katzenfutter und gibt den Inhalt mit einem Löffel in Morfs Napf.
Sofort verliert der Kater jegliches Interesse an seinem Frauchen und macht sich über sein Futter her.
Julia ignoriert den Stapel Geschirr in der Spüle und geht nach oben ins Bad.
Während sie unter der lauwarmen Dusche steht und sich den Schweiß des Tages von der Haut spült, denkt sie an Taco.
Sie haben sich auf der Geburtstagsfeier von Sjoerds Frau, Melanie, kennengelernt. Normalerweise gibt sie sich bei neuen Bekanntschaften eher zurückhaltend, doch Taco zog ihren Blick wie magisch an. Taco wiederum blieb ihr Interesse nicht verborgen, denn als ein Stuhl neben ihr frei wurde, setzte er sich zu ihr und begann ein Gespräch.
Eine gute Stunde redeten sie so vertraut miteinander, als würden sie sich schon seit Jahren kennen. Sie tauschten Telefonnummern aus, und als sie das Fest gleichzeitig verließen, gingen sie noch auf einen Absacker in eine Kneipe.
So hatte ihre Beziehung vor zwei Monaten begonnen. Dass sie sich eher locker gestaltet, stört Julia nicht, zumal sie daran zweifelt, ob Taco der richtige Partner für sie ist. Aber weil momentan alles gut läuft, macht sie sich keine weiteren Gedanken.
Sjoerd hingegen scheint von ihrer Beziehung mit Taco nicht allzu begeistert zu sein.
»Mit dem wirst du nicht glücklich«, hatte er schon wenige Tage nach der Geburtstagsfeier gesagt, als sie ihm erzählte, dass sie noch mit Taco in einer Kneipe gewesen war.
»Ach«, meinte Julia, leicht pikiert, weil er ihr offenbar so wenig Urteilsvermögen zutraute. »Und wie kommst du darauf?«
»Ich kenne ihn«, sagte Sjoerd lediglich und hüllte sich ansonsten in Schweigen.
Bis heute weiß Julia nicht genau, was er damit gemeint hat, aber eine Vermutung hat sie schon: Sjoerd ist ein ruhiger Mensch, unerschütterlich und ohne Launen. Logisch, dass er für jemanden, der immer und überall im Mittelpunkt steht, nicht viel übrig hat. Taco hat etwas, das die Leute veranlasst, ihn zu umkreisen wie Planeten die Sonne. Die Männer spielen gern eine Partie Billard mit ihm, die Frauen fühlen sich durch seine Aufmerksamkeit geschmeichelt. Er versteht es, jedem das Gefühl zu geben, wichtig zu sein.
Julia stellt die Dusche aus und trocknet sich ab. Sie muss an den aktuellen Fall denken. Nicht zum ersten Mal wünscht sie sich, sie könnte ihn mit ihrem Vater besprechen. Er war ebenfalls Polizist, aber bei der Sitte. Was er von seiner Arbeit erzählte und vor allem sein unermüdlicher Einsatz weckten bei Julia schon in jungen Jahren das Interesse für die Polizeiarbeit. Trotz der Einwände ihrer Mutter, die die Tochter nur ungern in einem so anstrengenden und gefährlichen Beruf sehen wollte, stand für Julia fest, dass sie auf die Polizeischule gehen würde.
Sie zählte zu den besten Absolventen ihres Jahrgangs.
Voller Tatendrang trat sie ihre Arbeit als Streifenpolizistin an. Und auch an ihren ersten Fall als frisch gebackene Kripobeamtin erinnert sie sich noch gut: Ein junges Ehepaar war bei einem Raubüberfall umgekommen, der vierjährige Sohn lag schwer verletzt auf der Intensivstation. Die Sache nahm sie damals sehr mit, und sie setzte alles daran, dass der kleine Junge zumindest in dem Wissen aufwachsen konnte, dass der Mann, der ihm die Eltern genommen hatte, zur Rechenschaft gezogen wurde. Selbst als dieser längst hinter Gittern saß, ließ das Schicksal des Jungen sie nicht los, und sie erkundigte sich regelmäßig nach ihm.
Den Tag, an dem sie zum ersten Mal eine Uniform trug, hatten Julias Eltern allerdings nicht mehr erlebt. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben, als Julia fünfzehn war. Ein Lkw, der auf der falschen Straßenseite fuhr, prallte frontal auf ihren Wagen.
Oma Emma, ihre Großmutter väterlicherseits, nahm sie bei sich auf. Sie war bei der Abiturfeier dabei, nahm regen Anteil an Julias Ausbildung und hörte gern zu, wenn sie von ihren ersten Erfahrungen auf Streife berichtete. Sie hat bis heute immer ein offenes Ohr für ihre Enkelin. Die beiden haben eine enge Bindung, und Julia besucht ihre Großmutter, so oft sie kann.
Sie haben sich in einem Restaurant am Munsterplein verabredet. Taco sitzt bereits an einem Tisch im Freien, trinkt sein erstes Bier und schäkert mit zwei jungen Deutschen am Nebentisch, vermutlich Touristinnen. Als er Julia kommen sieht, steht er sofort auf.
»Hi, meine Süße.« Er legt den Arm um sie und küsst sie auf dem Mund. »Wie war dein Tag? Hast du ein paar Verbrecher gefangen?«
Lachend nimmt Julia Platz. »Schön wär’s! Jeden Tag ein paar Verbrecher ... dann wäre ich im Nu Kommissarin.«
»Lieber nicht. Meine Freunde meiden mich jetzt schon, weil sie Angst vor dir haben.«
Taco bestellt ein Weißbier für Julia. »Ist doch in Ordnung, oder?«, sagt er, als die Bedienung bereits wieder weg ist.
»Schon gut.« Die letzten paar Male, die sie aus waren, hat sie tatsächlich Weißbier getrunken, aber eigentlich macht sie sich nicht viel aus Alkohol. Eine Cola wäre ihr auch recht gewesen.
»Ganz schön warm, was?«, sagt Taco. »Was meinst du, wollen wir im Freien essen?«
»Gern. Ich finde es gemütlich hier.« Entspannt lehnt Julia sich zurück und lässt den Blick über den belebten Munsterplein schweifen. Sämtliche Straßencafés sind voll, und von überall her hört man Leute reden und lachen. Mitten auf dem Platz steht ein Musikpavillon, in dem ein kleines Orchester aufspielt und nach jedem Stück großen Applaus erhält.
Читать дальше