Die Gegend wirkt friedlich, aber der Eindruck täuscht. In den letzten vier Monaten wurden hier mehrmals Routinekontrollen durchgeführt und bei insgesamt hundert Personen dreißig Waffen gefunden, darunter so große Messer, dass es schon an ein Wunder grenzte, dass die Besitzer sich nicht selbst damit verletzt hatten.
Vor einer Dönerbude steht eine Gruppe Jugendlicher in Kapuzenjacken und mit Bierflaschen in der Hand.
Als das Auto langsam an ihnen vorbeifährt, sehen sie ihm misstrauisch nach. Julia und Sjoerd sind zwar mit einem Zivilfahrzeug unterwegs und tragen keine Uniform, dennoch ist es so, als stünde ihnen das Wort »Polizei« auf die Stirn geschrieben.
Noch vor Kurzem hätten die Jungen ihr Auto mit Müll beworfen – vor der Einführung der Nulltoleranzstrategie war das die übliche Reaktion auf Polizeipräsenz.
In der Nähe des kleinen, ziemlich heruntergekommenen Spielplatzes parkt Sjoerd am Straßenrand, und sie steigen aus. Im Park, der von der Bachstraat aus zugänglich ist, sehen sie ein paar Kinder. Ein etwa zwölfjähriges Mädchen mit langen dunklen Locken hat ein Kleinkind an der Hand, ein jüngeres Mädchen schiebt den leeren Buggy hinterher.
Gleich an der Ecke liegt die Imbissstube »Donderberg«. Sie gehört Roy, den Julia noch von früher kennt.
»Hallo, Roy«, sagt sie beim Eintreten. Auch Sjoerd grüßt, doch dem Wirt scheint ihr Besuch ganz und gar nicht zu passen. Mit einem Geschirrtuch in der Hand steht er hinterm Tresen und brummt etwas in seinen Bert.
»Wir möchten dich etwas fragen«, sagt Julia.
»Ich weiß nichts über die Morde in der Bachstraat, okay? Rein gar nichts!«
»Schon gut. Wir wollten auch nur fragen, ob du Milchshakes für uns hast. Ich nehme Erdbeere.« Sie wendet sich ihrem Kollegen zu: »Und du? Vanille?«
»Genau.«
Misstrauisch mustert Roy die beiden. »Ihr seid doch wohl nicht wegen zwei Milchshakes gekommen?«
»Nein, wir hätten gern noch Kroketten dazu.«
Mit hochgezogenen Brauen macht Roy sich an der Fritteuse zu schaffen und wirft hin und wieder einen Blick über die Schulter.
»Du hast die Morde in der Bachstraat erwähnt«, sagt Julia. »Darüber wird hier bestimmt wild spekuliert, was?«
Roy kehrt ihr weiterhin den Rücken zu und gibt keine Antwort. Die Kroketten gleiten zischend ins Fett.
Als er sich umdreht, beugt Julia sich über den Tresen und sieht ihn fragend an.
»Die Morde ... Klar wird darüber geredet. Aber ich sag nichts dazu, kein Wort. Ich leg’s doch nicht drauf an, dass die mir den Laden kurz und klein schlagen.« Er wirft einen verstohlenen Blick durchs Fenster.
»Sie wissen also, wer die Tat begangen hat?«, hakt Sjoerd nach.
»Nö, keine Ahnung. Ich weiß bloß, dass hier ‘ne Menge Gesindel rumläuft. Mich würd’s nicht wundern, wenn einer von denen was damit zu tun hätte. Aber wissen tu ich nichts.«
»Aber dir kommt doch sicher öfter mal was zu Ohren«, sagt Julia.
Ohne sie anzusehen, stellt Roy zwei Milchshakes auf den Tresen.
»Roy, wenn es Ihnen unangenehm ist, hier darüber zu sprechen, nehmen wir Sie eben mit aufs Revier«, sagt Sjoerd. »Was halten Sie davon?«
Der Wirt wirft ihm einen abschätzigen Blick zu. »Und was denken die Typen dann wohl von mir, hm?«
»Die denken, dass Sie was ausgeplaudert haben, vor allem, wenn wir Sie ein paar Stunden festhalten. Aber Sie können uns auch gleich sagen, was Sie wissen, dann sind wir im Nu wieder weg.«
»Ich weiß aber nichts! Das hab ich doch schon gesagt! Ich krieg hin und wieder etwas mit, ja, und ich hab so meine Vermutungen. Aber sicher wissen tu ich nichts. Und schon gar nicht, wer hinter den Morden in der Bachstraat steckt, ehrlich. Wenn ich das wüsste, würd ich’s sagen. Kristien und Ruud waren nämlich Stammkunden, die haben oft Pommes oder Eis bei mir gekauft. Nette Leute. Furchtbar, was da passiert ist, aber ich weiß wirklich nichts. Was hättet ihr auch davon, wenn ich jetzt ein paar Namen nenne?«
Wieder geht Roys Blick zum Fenster, und er erstarrt.
Julia sieht acht junge Männer auf dem Bürgersteig gegenüber, sechs dunkelhäutige Typen, zwei Weiße. Sie stehen da und fixieren die Imbissstube wie Raubtiere, die auf Beute lauern. Als sie sich in Bewegung setzen und auf den Eingang zukommen, tastet Julia automatisch nach ihrer Walther P5.
Drei, vier Stunden, mehr Schlaf ist nicht drin. Obwohl Nathalie hundemüde ist, fährt sie beim kleinsten Geräusch hoch und liegt anschließend lange wach. Sie hat einmal gehört, dass sterbende Menschen ihr Leben wie einen Film an sich vorüberziehen sehen. Ganz ähnlich ergeht es ihr in dieser Nacht. Jedes Mal, wenn sie kurz eindämmert, stürmen Bilder auf sie ein. Bilder, die sie bis ins Innerste aufwühlen, sodass sie beim Wachwerden völlig desorientiert ist.
Sie dreht den Kopf zur Seite. Robbie liegt neben ihr in tiefem Schlummer. Hin und wieder schmatzt er leise.
Seltsamerweise wirkt sein Anblick beruhigend auf Nathalie, dabei müsste sie sich eigentlich Sorgen um das Kind machen, statt Trost aus seiner Anwesenheit zu ziehen.
Sie döst wieder ein, wird jedoch bald darauf abrupt aus dem Schlaf gerissen, weil Robbie jämmerlich zu schreien beginnt.
Sie nimmt das Baby in den Arm und flüstert ihm Koseworte ins Ohr. Tatsächlich wird der Kleine ruhiger, fängt aber sofort wieder zu quengeln an, als sie ihn ablegt.
Seufzend steht Nathalie auf, um seine Windel zu wechseln. Dann setzt sie ihn in den Buggy und gibt ihm seinen Frotteeteddy, den er jedoch auf den Boden wirft. Er macht seinen Körper steif, schreit lauthals, und sein Köpfchen läuft rot an.
Hastig bereitet sie im Badezimmer eine Mahlzeit für ihn zu. Sie gibt Milchpulver in das Fläschchen, dazu Wasser, dann schüttelt sie das Ganze und stellt es in den Babykostwärmer.
Kaum ist die Milch einigermaßen warm, eilt sie damit zu dem schreienden Robbie.
Zu Hause hat sie festgestellt, dass er schon allein trinken kann, wenn sie ein zusammengerolltes Handtuch unter die Flasche legt. Als er zu nuckeln begonnen hat, schaltet sie ihr Handy an. Ungeduldig fixiert sie das Display und wartet auf die Einschaltmelodie.
Fünf Anrufe werden angezeigt, alle von Vincent. Sekundenlang ist Nathalie wie vor den Kopf geschlagen.
Könnte es sein, dass nicht die Polizei angerufen hat, sondern tatsächlich Vincent selbst? Hat er überlebt?
Nervös beißt sie sich auf die Unterlippe und ruft die letzte Nachricht ab. Als sie die Stimme hört, ist alle Hoffnung dahin: »Nathalie, ich bin’s. Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist, jedenfalls hast du verdammtes Glück, dass ich noch lebe. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du so einfach davonkommst.« Die Stimme schweigt für ein paar Sekunden. »Nico hat sich um meine Kopfverletzung gekümmert. Sei froh, dass ich dich gestern nicht erwischt habe, sonst hättest du dein blaues Wunder erlebt. Aber inzwischen hab ich mich wieder eingekriegt. Wir müssen reden, Nathalie. Ich weiß, dass du in Frankfurt bist. Ich bin im gleichen Hotel abgestiegen und warte morgen im Frühstücksraum auf dich. Bis dann.«
Nathalie wird schwindlig vor Angst. Das Telefon in der Hand, lässt sie sich auf die Bettkante sinken. Vincent ist hier, mit ihr unter einem Dach! Sie zweifelt keinen Moment daran, dass es stimmt. Er hat sie gefunden, wahrscheinlich mithilfe irgendeines Peilsenders am Auto. Das wäre typisch für ihn. Er muss immer alles unter Kontrolle haben. Nicht zuletzt deshalb hat sie schon mehrmals versucht, ihn zu verlassen.
Diesmal aber ist sie fest entschlossen, sich nie mehr schlagen und herumkommandieren zulassen. Nicht von Vincent und auch von sonst niemandem mehr. Sie ist erwachsen und kommt allein zurecht. Zu Vincent zurückzukehren kommt für sie nicht infrage, sonst wäre sie, nach allem, was passiert ist, so gut wie tot. Sie kennt seine Sprüche. Im Frühstücksraum, vor den anderen Hotelgästen, würde er sich nachsichtig geben, aber sobald sie allein wären, müsste sie büßen – wie, das will sie sich gar nicht erst vorstellen.
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