And if I ever lose my eyes, if my colours all run dry,
yes, if I ever lose my eyes, oh if … I won’t have to cry no more.
Cat Stevens, Moonshadow
Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
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eISBN 978-3-8271-8410-8
Ria Hellichten
Blindlings
ins Glück
Für Vivian, die mehr sieht als wir alle.
Ben Howard – 7 Bottles
U2 – Sleep Like a Baby Tonight
Mumford & Sons – Blind Leading the Blind
The Rolling Stones – Tumbling Dice
Cat Stevens – Moonshadow
Lady Gaga & Bradley Cooper – Shallow
Kodaline – Ready
Queen – Let Me Live
Birdy – Save Yourself
Mumford & Sons – Hold on to What You Believe
Kodaline – The One
Das Rattern der Jalousien durchbrach die friedliche Stille des Büros wie Kanonenschüsse. Gleißende Sonne füllte den Raum.
Tabea beobachtete, wie Barbara sich wieder vom Fenster entfernte und vor ihrem Computer Platz nahm. Die Sekretärin strich den Rock glatt und zog ihre Brille auf die Nasenspitze. Es dauerte geschlagene drei Sekunden, bis die Sekretärin bemerkte, dass alle Fenster minimiert waren und sie mit konzentriertem Blick auf das Hintergrundbild starrte: ein getigertes Kätzchen auf einer Wiese. Hektisch klickte sie auf den Maustasten herum.
Sprich ihn am besten gar nicht an, hatte Barbara gesagt. Der Vollautomat ist seit Freitag kaputt. Das macht ihn wahnsinnig und ich muss jetzt seinen Kaffee von Hand aufbrühen. Außerdem stehen die Gehaltsabrechnungen an: Die letzte Woche des Monats ist immer der Horror.
Entschlossene Schritte näherten sich vom Flur her, dann schwang die Glastür auf. Tabea wandte den Kopf. Das war also Johannes Baumann: Der maßgeschneiderte Anzug saß perfekt, genauso das unverbindliche Lächeln. Ein leichter Windzug wehte durch das gekippte Fenster und strich ihm lässig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Fehlt nur noch, dass von irgendwoher coole Musik dröhnt, dachte sie. Aber statt Rock You Like a Hurricane begleitete nur das disharmonische Surren einer Fliege den Auftritt des Personalchefs.
Baumann verschränkte die Arme vor der Brust – das Jackett war wohl doch etwas zu eng geschnitten, denn es spannte bei dieser Geste eindeutig an den Oberarmen – und blickte wortlos von Tabea zu Barbara und wieder zurück. Dabei runzelte er die Stirn und sah sie beide so finster an, dass Tabea am liebsten unter dem kleinen Behelfsschreibtisch verschwunden wäre, den man ihr ins Zimmer geschoben hatte. Stumm drehte sich ihr Chef zum Fenster um.
„Soll ich Ihnen Kaffee bringen? Schwarz, wie immer?“, fragte Barbara.
Baumann nickte seiner Sekretärin zu, stellte seine Aktentasche ab und blieb ungeduldig vor dem Fenster stehen. Es verstrichen zwei oder drei stille Minuten, bis Barbara wieder herbeieilte und ihm eine dampfende Kaffeetasse reichte. Baumann nahm einen Schluck und verzog das Gesicht, dann goss er den restlichen Inhalt der Tasse in eine schmächtige Yuccapalme auf dem Fensterbrett. War wohl nicht das erste Mal, dass er seinen Kaffee teilte.
„Haben Sie wieder vergessen, den Filter anzufeuchten? Das schmeckt ja wie Spülwasser.“
Woher er wohl wusste, wie Spülwasser schmeckte? Tabea unterdrückte ein Schmunzeln. Das hatte sie nur gedacht, oder? Puh.
Baumann ließ sich in den ledernen Chefsessel hinter dem höhenverstellbaren Schreibtisch fallen. Schließlich knöpfte er sein Jackett auf, feuchtete einen Zeigefinger an und machte sich daran, einen turmhohen Stapel an Unterlagen zu signieren. Er war schon fast bei der Hälfte des Papierbergs angekommen, als er fragte, ohne aufzusehen: „Möchten Sie sich vielleicht vorstellen oder haben Sie schlicht vor, den ganzen Tag stumm dazusitzen und mir bei der Arbeit zuzusehen?“
Barbara verschluckte sich und spuckte beinahe ihren Kräutertee über den Bildschirm. „Entschuldigen Sie, Herr Baumann“, klinkte sie sich ein. „Ich dachte, Sie wüssten Bescheid, dass heute Frau …“
Tabea unterbrach ihre halbherzig gespielte Partie Tic- Tac-Toe gegen sich selbst und stand auf. Sie gab sich keine Mühe, irgendwas glattzustreichen, denn der recycelte Baumwollstoff ihres Fairtrade-Blazers machte ohnehin, was er wollte. „Bach“, sagte sie mit fester Stimme. „Tabea Bach. Wir haben uns nach dem Bewerbungsgespräch kurz gesehen und sicher hat Ihnen Herr Döring mitgeteilt, dass ich Ihre Abteilung in den nächsten Wochen als Praktikantin unterstützen werde.“
Beim Namen seines Vorgesetzten zog Baumann unverhohlen eine Augenbraue hoch, aber noch bevor er etwas erwidern konnte, streckte ihm Tabea enthusiastisch die Hand entgegen. „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“
Er zögerte kurz. Verdammt! Hatte sie es wieder mal übertrieben?
Aber dann griff Baumann beherzt zu, drückte ihre Finger einmal kräftig und sagte: „Ganz meinerseits.“
Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Keiner von beiden blinzelte, keiner sah weg. In Baumanns Augen lag plötzlich ein Funkeln, fast so, als wüsste er, dass er bei einer Lüge ertappt worden war. Gleichzeitig bog sich einer seiner Mundwinkel nach oben. Tabea verstand: Dieses jungenhafte Halblächeln war keine Show, das war ganz er. Für einen Moment dachte sie, Baumann wollte noch ein paar höfliche Begrüßungsfloskeln austauschen, aber alles, was er sagte, war: „Ich hoffe, Sie können Kaffee kochen.“
Wie gerädert. Gehängt, gerädert und gevierteilt. Der letzte Abend der Geschäftsreise hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Rest gegeben. Er wusste nicht mal, wie lange er geschlafen hatte.
Freitag war er am Flughafen Basel-Mulhouse-Freiburg gelandet, daran erinnerte er sich. Von dort aus ging es nach Hause und er hatte sogar angefangen, eine Präsentation für die nächste Woche vorzubereiten. An seinen Rausch hingegen waren ihm nur wirre Erinnerungen geblieben, die wie im Fiebertraum zusammenhanglos an ihm vorbeischwirrten, dazu ein drückendes Gefühl in der Magengegend und stechende Kopfschmerzen. Nie wieder würde er solches Teufelszeug trinken, so viel war sicher.
Am Samstag, dem Tag nach der Landung, war Johnny speiübel geworden; er hatte seine Zeit zwischen der Toilette und dem Sofa verbracht und war früh ins Bett gegangen. Trotzdem fühlte er sich heute nicht viel besser. Und Johnny hasste Sonntage, selbst wenn er sie nicht mit einem üblen Kater zubringen musste. Wahrscheinlich türmten sich inzwischen die Briefe auf seinem Schreibtisch und das E-Mail-Postfach quoll über.
Johnny schlug die Augen auf, aber im Schlafzimmer war es stockfinster. Er massierte die Haut zwischen seinen Augenbrauen, die sich so kalt und glatt anfühlte wie Wachs. Sicher war es schon Nachmittag, dabei musste er dringend wieder an die Präsentation. Das war gleich der erste Punkt auf der Tagesordnung, abgesehen davon, sich mithilfe eines doppelten Espressos, einer heißen Dusche und zwei oder drei Kopfschmerztabletten wieder in einen ansehnlichen, disziplinierten und motivierten Menschen zu verwandeln.
Wenigstens nahm Johnny an, dass die anderen über die Eskapaden der letzten Tage Stillschweigen bewahren würden – denn niemand legte sich freiwillig mit dem Personalchef an. Außerdem waren die meisten seiner Untergebenen verheiratet und er war nicht sicher, ob die jeweiligen Ehefrauen, die ihnen am Flughafen „Viel Spaß“ gewünscht hatten, wussten, wie richtig sie damit lagen. Als internationales Pharmaunternehmen hatte Sanacur auch eine Tochterfirma in Spanien. Und die Spanier wussten, wie man feiert.
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