Misstrauisch hatte Julia gefragt, ob er damit ebenfalls Probleme habe.
Sjoerd hatte grinsend den Kopf geschüttelt. »Quatsch! Für mich hat es nur Vorteile, dass du meine Partnerin bist. Du bist nun mal die Beste aus unserem Team, also lass ich dich die ganze Arbeit machen, heimse das Lob ein und bekomme noch eine Gehaltserhöhung.«
Sie hatte so getan, als wollte sie ihm ihr Bier ins Gesicht schütten, dann waren sie beide in Gelächter ausgebrochen.
Wenn man tagtäglich zusammen ist, lernt man sich zwangsläufig ziemlich gut kennen. Julia weiß, dass Sjoerd lieber zu Burger King geht als zu McDonald’s. Sie weiß, worüber er sich ärgert und was ihn zum Lachen bringt, dass er gern klassische Musik hört und lieber wochenlang Zahnschmerzen erträgt, als einmal zum Zahnarzt zu gehen. Und dass er auf Salmiaklutscher steht.
Sie kennt Sjoerd so gut, als wäre er ihr Lebensgefährte, und die Zusammenarbeit hat von Anfang an sehr gut funktioniert.
Julia kann sich nicht vorstellen, mit jemand anderem zu arbeiten, und schon gar nicht mit einem wie Ari. Ein Albtraum! Sie würde umgehend ihre Versetzung beantragen.
Noch leicht verärgert über die Provokation, macht sie sich an die Arbeit und ist schon bald völlig darin vertieft. Sjoerd sitzt inzwischen ebenfalls an seinem Schreibtisch. Nachdem sie eine halbe Stunde still vor sich hingearbeitet und ihre Ermittlungen dokumentiert haben, kommt Hauptwachtmeisterin Rietta herein und legt Julia eine Mappe hin: Sie enthält die Auswertung der Anwohnerbefragung.
»Danke, Rietta«, sagt Julia, ohne die Finger von der Tastatur zu nehmen.
»Gern geschehen. Sind das hier die Fotos vom Tatort?« Rietta zeigt auf eine Klarsichthülle. »Habt ihr schon Hinweise?«
»Bisher nicht. Wir warten auf die Ergebnisse von der Kriminaltechnik.«
»Und wie schätzt du den Fall ein?«
Aus dem Augenwinkel sieht Julia, dass Ari und Koenraad Blicke tauschen. Sie kehrt ihnen den Rücken zu.
»Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine Abrechnung«, sagt sie.
»Ja«, pflichtet ihr Rietta bei, »Den Nachbarn zufolge hatte Ruud Schavenmaker ziemliche Probleme mit den Ausländern im Viertel.«
»Aber wenn das der Grund war, verstehe ich nicht, warum seine Freundin ebenfalls umgebracht wurde. Vermutlich geht es hier um mehr als nur um Diskriminierung«, sagt Julia. »Du weißt ja, dass Donderberg nicht gerade ein Musterviertel ist.«
Roermond-Donderberg ist ein Multikultiviertel, in dem es immer wieder zu Konflikten zwischen ausländischen und einheimischen Bürgern kommt. Außerdem sind etliche Bewohner in kriminelle Machenschaften verstrickt. Im Grunde reichen die drei Problemviertel der Stadt – Donderberg, ‘t Veld und De Kemp – bereits aus, um sämtliche Streifenkollegen rund um die Uhr auf Trab zu halten. Kneipenschlägereien, Messerstechereien und dergleichen sind dort an der Tagesordnung, und die Zeugen schweigen meist aus Angst vor Racheakten.
»Die Kollegin Vriens hat den Fall schon gelöst.« Ari dreht seinen Bürostuhl so, dass er Julia im Visier hat. »Jedenfalls theoretisch. Und ganz ohne Beweise.«
»Ich recherchiere, Walraven«, sagt Julia. »Nach Beweisen muss man erst einmal suchen.«
»Mit deinem Tunnelblick wirst du bestimmt schnell welche finden«, sagt Ari.
Julia dreht ihm seufzend den Rücken zu.
»Lass dich nicht ärgern!«, sagt Rietta. »Ari ist ein großes Kind. Ich gehe jetzt Kaffee holen. Möchtest du auch einen?«
»Ja, gern. Danke.«
»Nett von dir, Rietta!«, ruft Ari dazwischen. »Du weißt ja, wie ich ihn trinke.«
»Allerdings«, sagt Rietta im Hinausgehen. »Schwarz – genau wie deine Seele.«
Zwanzig Kripoleute von verschiedenen Revieren in Midden-Limburg werden als Sonderkommission auf den Fall angesetzt.
Julia und Sjoerd haben sich Fotos und Videoaufnahmen vom Tatort angesehen und die Akten straffällig gewordener Bewohner des Viertels unter die Lupe genommen.
Inzwischen ist bekannt, dass das ermordete Paar in dem überwiegend von Ausländern bewohnten Stadtteil nicht besonders beliebt war. Als einer der letzten Einheimischen hatte Ruud Schavenmaker vehement den »Verfall des Viertels« beklagt und damit weniger den renovierungsbedürftigen Zustand vieler Reihenhäuser und Wohnblocks, sondern deren Bewohner gemeint.
»Ruud hat sich immer wieder mit den Marokkanern angelegt«, hatte eine ältere Frau, die ein paar Häuser weiter wohnt, berichtet. »Dabei machen die gar nichts, sondern stehen nur rum, rauchen und reden miteinander. Aber Ruud hat sich trotzdem daran gestört. Vor allem mit einem von ihnen, einem gewissen Rachid, lag er im Clinch. Den hat er immer wieder einen stinkenden Kameltreiber genannt. Manchmal habe ich gedacht, das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Eines schönen Tages hat Ruud noch ein Messer im Bauch, so wie Theo van Gogh.«
Ein Messer war es zwar nicht, denkt Julia, aber das Ergebnis ist dasselbe.
Julia hat wie Sjoerd Überstunden gemacht, trotzdem ist sie mir ihrer Schreibtischarbeit noch längst nicht fertig. Häuft sich diese zu sehr, sehnt Julia sich manchmal nach der Zeit zurück, in der sie als Streifenpolizistin unterwegs war. Sie mochte es, durch die Stadt zu gehen, hier und da einen Streit zu schlichten oder bei einer Rauferei einzugreifen.
Trotzdem hat sie zugegriffen, als sich ihr die Möglichkeit bot, zur Kripo zu gehen. Und ihr Chef hat ihr geraten, sich zur Kommissarin ausbilden zu lassen. Dafür muss Julia viel lernen, und das neben ihrer Vollzeitarbeit, aber sie ist ehrgeizig und möchte beruflich weiterkommen.
Schnell ordnet sie die Papiere auf dem Schreibtisch, nimmt ihre Tasche und geht in die Waffenkammer. Sie schließt gerade ihre Dienstpistole ein, als auch Sjoerd hereinkommt und sein Schulterhalfter abnimmt.
»Hast du heute noch was vor?«, fragt er, während er seine Waffe verstaut.
»Ich bin mit Taco in der Stadt zum Essen verabredet.«
»Nett.«
»Ja.«
Sie sehen sich an.
»Tja«, sagt Julia. »Dann geh ich mal. Dir noch einen schönen Abend.«
»Danke, ebenso. Bis morgen.«
Julia verlässt gerade die Waffenkammer, als Sjoerd ihren Namen ruft.
Mit fragendem Blick dreht sie sich zu ihm um.
»Pass auf dich auf.« Mehr sagt er nicht.
Julia nickt und geht dann zum Ausgang.
Auf der Höhe von Frankfurt sieht Nathalie von der Autobahn aus ein Novotel-Logo. Sie setzt den Blinker und nimmt die Ausfahrt.
Hinter ihr schreit Robbie zum Steinerweichen, aber sie kann sich jetzt nicht um den Kleinen kümmern. Also begnügt sie sich damit, über den Rückspiegel Blickkontakt aufzunehmen und dabei Kinderlieder zu singen, die sie von früher kennt.
Doch das hilft nicht viel. Nur hin und wieder schweigt Robbie, um Luft zu holen und dann mit neuer Energie loszubrüllen.
Er hat genug vom Autofahren und Nathalie ebenfalls. Sie fährt in die Tiefgarage des Hotels, holt den Buggy aus dem Kofferraum und klappt ihn auf. Kaum sitzt Robbie darin, hört er auf zu schreien. Froh um die himmlische Ruhe, seufzt Nathalie auf.
Sie hängt ihr Gepäck an die Handgriffe und schiebt den Buggy vor sich her zum Aufzug.
»Guten Abend.« Die Rezeptionistin lächelt Nathalie freundlich an und wirft dann einen mitleidigen Blick auf das verweinte Kind mit dem hochroten Kopf.
Ja, selbstverständlich könne sie ein Zimmer haben, beantwortet sie Nathalies auf Englisch gestellte Frage und greift nach einem Formular. Hastig füllt Nathalie es aus, holt ihren Pass aus der Tasche und legt ihn auf den Tresen.
Die junge Frau überfliegt das Formular.
Gespannt wartet Nathalie ab. Weder Pass noch Führerschein ist auf ihren richtigen Namen ausgestellt. Beide Dokumente sind gefälscht, nur hat sie sie bisher noch nie im Ausland vorzeigen müssen. Sie atmet erleichtert auf, als die Frau nickt.
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