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Bei neuartigen gestalt- oder funktionsverändernden Eingriffen wie kosmetischen Operationenwird weitgehend von der Tatbestandmäßigkeit der Handlungen ausgegangen, auf Ebene der Rechtswidrigkeit ist aber eine rechtfertigende Einwilligung unter Beachtung von § 228 StGB möglich. An die Wirksamkeit der Einwilligung sind dabei umso höhere Anforderungen zu stellen, je weniger der Eingriff von Heilungszwecken getragen wird.[384] So muss bei bloßen „Luxuseingriffen“ (beispielsweise das sog. „Lifting“ oder das Entfernen von Identitätsmerkmalen) der*die Arzt*Ärztin auf alle möglichen Folgen und Unannehmlichkeiten hinweisen.[385] Für die Frage, ob § 228 StGB eine Einwilligung ausschließt, kommt es auch auf die Beweggründe an, die sich wandelnden gesellschaftlichen Bewertungen unterliegen, was stets erhebliche Probleme bereitet.[386] Bei Geschlechtsumwandlungen hat im Rahmen von § 228 StGB die gesetzgeberische Wertentscheidung des TSG einzufließen, sodass eine Rechtfertigung nicht ausgeschlossen sein darf.[387] Schwierige Fragen stellen sich auch bei feuilletonistisch rezipierten Konstellationen, etwa bei „Wunschamputationen“ und dem überspitzten „Recht auf vorsätzliche Behinderung“.[388] Insgesamt werden bei im streng medizinischen Sinne nicht indizierten Operationen vielfältige Meinungen vertreten, die sowohl die ärztliche Ethik und Berufsausübungsfreiheit als auch die Selbstbestimmungsfreiheit der Patienten*Patientinnen erheblich betreffen. Grundsätzlich sollte angesichts des sehr weichen und undurchsichtigen Maßstabs der guten Sitten Zurückhaltung geübt werden. Anders mag dies in Fällen sein, in denen die Selbstbestimmungsfreiheit des*der Patienten*Patientin fraglich ist, etwa bei gezielter Hormongabe an Minderjährige zur bewussten Entwicklungshemmung.[389]
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Fraglich ist ferner, wie der ungeschützte Geschlechtsverkehrmit möglicherweise AIDS-Infizierten zu bewerten ist. Manche sehen bei einer wissentlichen Einwilligung in den Geschlechtsverkehr bereits nur eine eigenverantwortliche Selbstgefährdung, bei der das Fördern oder Ermöglichen somit straflos bliebe,[390] und keine einverständliche Fremdgefährdung (siehe hierfür Rn. 75 ff.). Hält man hingegen eine Einwilligung zur Rechtfertigung für erforderlich, so ist diese an § 228 StGB zu messen. Wird dabei von einer konkreten Lebensgefährdung durch die Infektion ausgegangen, so ist mit Hinblick auf die neuere Auslegungspraxis des § 228 StGB durch die Gerichte ( Rn. 94 f.) sowie im Hinblick auf § 216 StGB eine Sittenwidrigkeit der Einwilligung anzunehmen.[391] Deutlich praxisrelevanter sind indes die Fälle, in denen keine (wirksame) Einwilligung vorliegt, da nicht über die Infizierung aufgeklärt wurde (siehe Rn. 92). Bei sexuellen Handlungen im Übrigen geht mittlerweile auch die Rechtsprechung davon aus, dass sadomasochistische Praktiken, die zu Körperverletzungen führen, nicht gegen die guten Sitten im Sinne des § 228 StGB verstoßen.[392]
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Für einige Diskussionen sorgte in der jüngeren Vergangenheit die (religiös motivierte) Beschneidung von Jungenund die Frage, inwieweit dabei eine Einwilligung durch die Eltern möglich ist. Befürworter*innen einer Strafbarkeit führten dabei an, in der durchzuführenden Abwägung überwiege das Grundrecht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und das allgemeine Persönlichkeitsrecht gegenüber dem Erziehungsrecht der Eltern sowie dem Recht auf Religionsausübung.[393] Das LG Köln entschied im Jahr 2012 in einem solchen Fall dementsprechend und entgegen einer langjährigen Praxis, dass der Tatbestand sowie die Rechtswidrigkeit der Körperverletzung erfüllt seien.[394] Darauf reagierte der Gesetzgeber und machte von seiner gesetzgeberischen Prärogative Gebrauch. Er schuf den § 1631d Abs. 1 S. 1 BGB, der die entsprechende Einwilligung zivilrechtlich, aber auch mit Wirkung für das Strafrecht gesondert regelt.[395] Danach umfasst die Personensorge der Eltern auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. Damit ist die Debatte um die Beschneidung von Jungen vorerst beendet.
3. Der ärztliche Heileingriff im Besonderen
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Eine besondere Form der erlaubten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit stellt der ärztliche Heileingriff dar. Dabei werden wissentlich strafrechtlich geschützte Rechtsgüter aus Motiven tangiert, die von der Rechtsordnung gebilligt werden (Eingriff zum Heilen ). Darüber hinaus erfolgt der Eingriff regelmäßig im Sinne und auf Wunsch der Rechtsgutsträger*innen. Der Schutz des Strafrechts zielt hier daher in der Praxis vor allem auf das Selbstbestimmungsrecht der Patienten*Patentinnen vor eigenmächtigen Eingriffen, auch wenn diese lege artis und in guter, aber deren Willen missachtender, Absicht durchgeführt werden.[396]
a) Einordnung und rechtliche Behandlung
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Beim ärztlichen Heileingriff ist nach wie vor umstritten, ob lege artis durchgeführte Behandlungen überhaupt tatbestandsmäßig sind.[397] Einigkeit über die Tatbestandsmäßigkeit besteht zwar in den Fällen, in denen der ärztliche Eingriff nicht im Eigeninteresse des*der Patienten*Patientin, sondern im Fremdinteresse liegt. Darunter fallen beispielsweise die unfreiwillige Blutspende oder die Organspende, die immer eine Einwilligung des*der Patienten*Patientin voraussetzen.[398] Gleiches gilt für diagnostische und prophylaktische Eingriffe, soweit sie nicht unmittelbar zur Besserung des Gesundheitszustandes beitragen.[399] In allen anderen Konstellationen bestehen jedoch grundlegend divergierende Auffassungen.
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Die herrschende Lehre[400] verneint die Tatbestandsmäßigkeit in diesen Fällen mit dem Argument, dass der ärztliche Heileingriff als Ganzes zu betrachten sei, nicht die Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit durch die Behandlung als notwendige Zwischenschritte.[401] Diese Beeinträchtigung erfolge nur zu dem Zweck, einen Heilungserfolg zu erreichen. Daher liege keine Körperverletzung vor, sondern eine Behandlung, die ihrem sozialen Sinngehalt nach genau das Gegenteil erreichen wolle.[402] Zudem wird vertreten, dass der Kern des Rechtsguts im Interesse der betroffenen Person an körperlicher Integrität bestehe, die beim Heileingriff nicht verletzt, sondern gefördert werde.[403]
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Uneinigkeit besteht dabei darüber, welche Anforderungen an eine Heilbehandlungzu stellen sind. Eine Strömung in der Literatur (sog. „Erfolgstheorie“) will dahingehend unterscheiden, ob der Eingriff gelungen oder nicht gelungen ist.[404] Nur bei einem misslungenen Eingriff sei der Tatbestand der Körperverletzung erfüllt. Zur Beurteilung dessen sei nicht auf die einzelnen Teilakte abzustellen, es komme vielmehr auf den Gesamterfolg an. Sobald im Ergebnis das körperliche Wohl im Ganzen erhöht oder bewahrt werde, sei der Tatbestand zu verneinen.[405] Problematisch erscheint an dieser Lösung allerdings das erhebliche Erfolgsrisiko, das dem ärztlichen Fachpersonal damit auferlegt wird, und die im Strafrecht nicht tolerierbare Rechtsunsicherheit, da erst im Nachgang der vorgenommenen Handlungen die Strafwürdigkeit des Verhaltens bestimmt werden kann. Eine andere Ansicht stellt darauf ab, ob der Eingriff kunstgerecht vorgenommen wurde.[406] Der Tatbestand der Körperverletzung sei schon dann nicht gegeben, wenn der Eingriff von einer Heilungstendenz getragen ist und kunstgerecht durchgeführt wird. Auch diese Lösung führt zu bedenklichen Folgen und zu einer nicht ungefährlichen Schutzlücke: Bei kunstgerechten, aber durch das ärztliche Fachpersonal eigenmächtig durchgeführten Heileingriffen läge ebenfalls keine Körperverletzung vor. Dies missachtet das Selbstbestimmungsrecht des*der Patienten*Patientin.
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