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Die Unterscheidung von Selbst- und Fremdgefährdungerfolgt im Grundsatz anhand der Betrachtung des „Gefahrenherdes“. Da die Grenze zwischen Selbst- und Fremdgefährdung im Einzelfall schwierig zu ziehen sein kann, es jedoch um Strafbarkeit und Straflosigkeit geht, bedarf es möglichst konkreter Kriterien zu ihrer Bestimmung. Die Rechtsprechung wendet für die Unterscheidung zwischen den beiden Konstellationen die Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme an. Danach soll es darauf ankommen, wer bei dem jeweiligen Geschehensablauf die Tatherrschaft innehat, die auch als „Gefährdungsherrschaft“ oder „Handlungsherrschaft“ bezeichnet wird.[287] Grundsätzlich ist dabei auf diejenige Handlung abzustellen, die im Sinne eines aktiven Tuns den Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolgs verursacht.[288] Wird diese Handlung vom Opfer durchgeführt und kontrolliert, liegt eine Selbstgefährdung vor, wird sie von der mitwirkenden Person vorgenommen, handelt es sich um einen Fall der Fremdgefährdung.[289] Oftmals sind allerdings sowohl Handlungen des Opfers, als auch der mitwirkenden Person kausal für den Erfolgseintritt. Hier sind die jeweiligen Beiträge nach Tatherrschaftskriterien zu bewerten. Vom BGH wurde beispielsweise angenommen, dass bei einem illegalen Autorennen der*die Fahrer*in die Mitfahrer*innen fremdgefährde, selbst wenn diese das Rennen filmen und das Startzeichen geben, da die wesentliche Kontrolle über die Gefahr von dem*der Lenkenden ausgehe, was als tatherrschaftlich zu bewerten sei.[290] Ebenso liege ein Fall der Fremdgefährdung vor, so das OLG Koblenz, wenn ein*e alkoholbedingt fahruntüchtige*r Kraftfahrer*in bei einem Verkehrsunfall eine*n Mitfahrer*in verletzt oder tötet, auch wenn diese*r Mitfahrer*in den Zustand des*der Fahrers*Fahrerin bei Fahrtantritt gekannt und das Risiko billigend in Kauf genommen hat.[291]
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Die Straflosigkeit der Mitwirkung an einer Selbstgefährdung gilt allerdings nur so lange, wie die Selbstgefährdung eigenverantwortlich erfolgt und nicht durch eine andere, überlegene mitwirkende Person herbeigeführt wird. Umstritten ist, wann die Eigenverantwortlichkeit der Selbstgefährdungangenommen werden kann. Ein Teil der Literatur zieht als Maßstab für die Beurteilung dessen die im Strafrecht geltenden Exkulpationsregelungen (§§ 20, 35 StGB, § 3 JGG) heran (sog. Exkulpationslösung).[292] Danach handelt die sich selbst gefährdende Person nur dann nicht eigenverantwortlich, wenn ihr Handeln nach einer der genannten Normen als nicht schuldhaft einzustufen wäre. Demgegenüber gelangt die sog. Einwilligungslösung häufiger zu einer strafrechtlichen Verantwortung von Dritten, die auf die handelnde Person einwirken. Nach dieser verbreiteten Ansicht[293] ist die Eigenverantwortlichkeit anhand derjenigen Maßstäbe zu bestimmen, die auch sonst bei der Disposition über eigene Rechtsgüter im Strafrecht gelten. Konkret werden die Anforderungen gestellt, die auch für eine wirksame Einwilligung gelten (vgl. Rn. 92), um von einem eigenverantwortlichen Handeln ausgehen zu können. Dies soll auch bei der Substitutionsbehandlung von Drogenabhängigen gelten, sodass die Substitutionsmaßnahme grundsätzlich zumindest bezüglich der Körperverletzungsdelikte straffrei ist.[294] Zwar kann auch bei Drogenabhängigen selbst nach dem Maßstab der Einwilligungslösung nicht pauschal von einer Unwirksamkeit der Einwilligung ausgegangen werden.[295] Im Einzelfall können jedoch besonders schwere Einschränkungen bei der Willensbildung die Unwirksamkeit der Einwilligung bewirken.
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Die Rechtsprechung[296] geht von einer straflosen Mitwirkung an einer Selbstgefährdung dann aus, wenn die sich selbst gefährdende Person das Risiko im selben Maße überblickt wie die mitwirkende Person.[297] Im Grundsatz beginnt die Strafbarkeit daher dort, wo die mitwirkende Person kraft überlegenen Sachwissens das Risiko besser erfasst als der*die sich selbst Gefährdende.[298] Dabei ist jedoch kein exaktes Fachwissen notwendig – etwa Kenntnis, ob drei Fläschchen Methadon zum Tode führen können. Vielmehr ist maßgebend, ob der*die sich selbst Gefährdende das rechtsgutsbezogene Risiko seines*ihres Verhaltens richtig eingeschätzt hat – z.B. grundsätzliche Kenntnis über Anwendung von Methadon.[299] Die Eigenverantwortlichkeit entfällt beispielsweise bei der Täuschung über die Art des Getränks bei einem Wetttrinken (Gastwirt*in trinkt nur Wasser, Opfer hochprozentigen Tequila), da somit das Risiko der eigenen Handlung nicht mehr adäquat bemessen werden kann.[300] Überlegenes Sachwissen soll auch bei der Verschreibung von kontraindizierten weiteren Medikamenten bei schon bestehender Medikamentierung bestehen.[301] Die Eigenverantwortlichkeit kann auch erst durch nachträgliches Unvermögen der Risikobeurteilung entfallen, etwa durch extremes Herabsinken der Vitalfunktionen und den Eintritt in das Sterbestadium. Dies kann zur Strafbarkeit eines*einer dies bemerkenden Garanten*Garantin führen, wenn dieser*diese die notwendigen Rettungsmaßnahmen unterlässt.[302]
3. Kausalität und Produkthaftung
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Für die Vollendung des Tatbestands ist bei allen Körperverletzungsdelikten der §§ 223 ff. StGB eine kausale Beziehung zwischen Tathandlung und dem eingetretenen tatbestandlichen Erfolg notwendig, da – abgesehen von § 231 StGB – sämtliche dieser Delikte Erfolgsdelikte sind. Im Regelfall ist bei einfachen tatsächlichen Umständen ohne große Probleme feststellbar, dass eine bestimmte Handlung für die Verletzung ursächlich geworden ist, also nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele. Es gibt jedoch verschiedene Fallgruppen, bei denen der Nachweis der Kausalität Probleme bereitet.
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Als problematisch erweisen sich bei der Körperverletzung insbesondere Fälle der Übertragung von Virus-Krankheiten, wie insbesondere das AIDS-Virus (HIV), aber auch Hepatitis-Viren der verschiedenen Gruppen (A, B und C).[303] Dies gilt vor allem auch, da die (teils unbemerkte) Infektion und der Ausbruch der Krankheit oftmals zeitlich auseinanderfallen. Grundsätzlich erfüllt bereits die Übertragung eines solchen Virus nach überwiegender Auffassung den Tatbestand des § 223 Abs. 1 StGB, des § 224 Abs. 1 Nr. 1 und ggf. auch Nr. 5 StGB.[304] Abhängig von dem eingetretenen Erfolg und der subjektiven Komponente können auch eine schwere Körperverletzung (§ 226 StGB) sowie eine Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) verwirklicht sein.[305] Ebenso ist eine fahrlässige Körperverletzung möglich, etwa wenn mit Hepatitis B infiziertes ärztliches Personal eine Operation vornimmt und den Virus auf den*die Patienten*Patientin überträgt.[306] Nach überwiegender Auffassung ist die Gesundheitsschädigung mit der Infektion vollendet. Das gilt unabhängig davon, ob der Krankheitsausbruch ungewiss oder voraussehbar lange dauern wird, da mit abgeschlossener Übertragung bereits ein Zustand einer andauernden und irreparablen Infektion vorliegt.[307]
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Die Kausalität erweist sich – neben Fragen des Vorsatzes und der Selbstgefährdung – bei diesen Fällen insofern als problematisch, als nachzuweisen ist, dass das jeweilige Handeln – bei HIV häufig Geschlechtsverkehr einer infizierten Person mit einer nicht infizierten Person – tatsächlich den konkreten Erfolg, also die Infektion mit dem Virus, verursacht hat. Dies ist meist nicht möglich, da der konkrete Infektionsweg im Nachhinein in der Regel nicht rekonstruiert werden kann und andere Infektionsmöglichkeiten nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden können, sodass eine Strafbarkeit wegen eines vollendeten Körperverletzungsdelikts regelmäßig scheitert.[308] Es bleibt daher bei der Strafbarkeit wegen Versuchs. Um diese vermeintliche Strafbarkeitslücke zu füllen, schlägt Herzberg vor, die Vollendung schon mit dem gefährlichen und unaufgeklärten Körperkontakt zu bejahen.[309] Er stellt dabei auf den rechtsgutsbezogenen Irrtum ab, da die rechtsgutsinnehabende Person nichts über die Infektionsgefährlichkeit wusste. Dies sei vergleichbar mit dem ärztlichen Heileingriff ohne Aufklärung der zu behandelnden Person. Dieser Vergleich ist allerdings insofern nicht zutreffend, als bei der Übertragung des HI-Virus, anders als bei dem ärztlichen Heileingriff, keine Substanzveränderung bei unaufgeklärtem Sexualkontakt vorgenommen wird. Die Übertragung des HI-Virus erfolgt durch Kontakt der Körperflüssigkeiten und nicht durch unmittelbare körperliche Beeinträchtigung. Der § 223 StGB würde zu einem Gefährdungstatbestand umgedeutet, da im Zeitpunkt des Geschlechtsaktes noch nicht feststeht, ob das Virus tatsächlich übertragen wurde. Ein solcher Gefährdungstatbestand entspricht aber nicht dem Wortlaut der Norm als Verletzungsdelikt. Vielmehr bräuchte es dafür ein „allgemeines Gesundheitsgefährdungsdelikt“[310] im StGB. Dafür besteht jedoch keine Notwendigkeit, da die Versuchsstrafbarkeit möglich ist und Beweisschwierigkeiten in Einzelfällen keine abstrakt-generelle Neuregelung entgegen der Systematik der Körperverletzungsdelikte erforderlich machen.
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