In den Wurzelkindern sind ähnlich wie in Philipp Otto Runges Pflanzendarstellungen die Größenverhältnisse so verändert, dass die Kinder auf Blättern von Blumen sitzen können, zum Beispiel denen der Seerose ( Abb. 4).
Abbildung 4: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J. F. Schreiber.
Die Größe der auf fast jedem Bild dargestellten Insekten – Käfer, Libellen, Ameisen, Schmetterlinge – macht deutlich, dass hier nicht die Pflanzen größer, sondern die menschlichen Figuren kleiner als in der Realität gezeichnet werden. Die kleine Gestalt der Wurzelkinder, die auf die englischen fairies insbesondere der literarischen und volksmythologischen Tradition verweist (Williams 1984, 795), zieht die herkömmliche Hierarchie von Menschen und Pflanzen in Zweifel: Wenn die menschlichen Figuren nicht größer sind als die Blumen und Gräser, wenn sie mit diesen im Frühling erscheinen und im Herbst wieder unter der Erde verschwinden, dann ist ein Naturverhältnis denkbar, in dem die Menschen eher gleichgeordnete companion species (Haraway) als Herrscher über die Natur sind. Im Unterricht wäre eine lohnende Frage die nach den Veränderungen, die sich für das Verhältnis zu den übrigen Wesen der Natur ergeben würden, wenn Menschenkinder so klein wie die Wurzelkinder wären: Was wäre dann möglich, was wäre schwieriger?
5. Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor (1841/42)
Die Interaktionen menschlicher und nichtmenschlicher Wesen erkundet Annette von Droste-Hülshoff systematisch in ihren Naturgedichten (vgl. Detering 2020; Kramer 2021a). Darin stellt sie Pflanzen und Tiere nicht isoliert, sondern in ihren jeweiligen Umwelten dar, zu denen Wasser, Wind, Sonne, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und auch die Geister gehören. In Drostes wohl berühmtestem Gedicht, Der Knabe im Moor , nehmen die Pflanzen des Moors auf unheimliche Weise menschliche Züge an.
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritt ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
(Droste-Hülshoff 1985, S. 67f., v. 1–8)
Wenn „die Ranke häkelt am Strauche“, „[w]enn aus der Spalte es zischt und singt“, wenn (in der dritten Strophe) das „Gestumpf “ am Ufer hervor „starret“ und die Föhre „[u] nheimlich nicket“ , dann sind das Moor und seine Vegetation menschenähnlich beseelt, bevor noch die Geräusche am „Hage“ und im „Geröhre“ als Äußerungen individueller und mit einem Narrativ verknüpfter Gespenster identifiziert werden. Die Grenzen zwischen menschenähnlich handelnden – singenden, starrenden, nickenden – Pflanzen und menschlichen Figuren verschwimmen auf unheimliche Weise. Die Geister haben teil an den Wechselbeziehungen in Drostes Poetik der Natur und sind mit den übrigen Wesen der Natur verwoben. Anstatt aber der Wildnis der Heide einen heimeligen Kulturraum entgegenzusetzen, macht Droste im Rückgriff auf Figuren des Volksglaubens die wilden, unheimlichen und unbeherrschbaren Kräfte sichtbar, die das Menschliche wie das Nichtmenschliche durchziehen.
6. Kulturelle Nachhaltigkeit und literarisches Lernen mit Plant Studies
Eine pflanzenorientierte Lektüre der hier vorgestellten Texte kann Schülerinnen und Schülern den Kerngedanken eines Konzepts der Natur vermitteln, von dem sowohl die aktuellen Naturwissenschaften als auch die Environmental Humanities ausgehen: dass Menschliches und Nichtmenschliches in der Natur nicht kategorisch voneinander zu trennen, sondern in komplizierten Interaktionen miteinander verwoben sind. 7 Dieses Naturkonzept liegt gegenwärtigen Theorien der Nachhaltigkeit zugrunde (für einen Überblick vgl. Kluwick & Zemanek 2019). Es ist die Voraussetzung, um komplexe ökologische Zusammenhänge z.B. des Klimawandels oder des Artensterbens zu begreifen. Deshalb ist ein Verständnis dieses Naturkonzepts zentraler Bestandteil einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, die im UNESCO-Weltaktionsprogramm gefordert und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung in einem nationalen Aktionsplan umgesetzt wird: „Bildung für nachhaltige Entwicklung ermöglicht es jedem Einzelnen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen und verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.“ 8 Anders als in den naturwissenschaftlichen Fächern können im Literaturunterricht die ökologischen Zusammenhänge nicht nur aufgezeigt und kognitiv begreiflich gemacht, sondern als individuelle ästhetische Erfahrung emotional erfassbar werden. Diese Lernprozesse beschreibt die kulturökologische Literaturdidaktik, sie stellt deshalb die Basis einer Adaption der Plant Studies im Literaturunterricht dar (vgl. z. B. Grimm & Wanning 2016).
Ein von den Plant Studies informierter Ansatz im Literaturunterricht kann zudem ein Instrument sein, um literarisches Lernen zu fördern. Den Blick auf die Pflanzen in einem Text zu fokussieren, kann als Methode eingesetzt werden, um komplexe Texte zu erschließen. Eine pflanzenorientierte Lektüre eröffnet neue Möglichkeiten zum literarischen Lernen, indem sie (1) zur genauen Textwahrnehmung anleitet, (2) Strategien zur Bewältigung komplexer Texte vermittelt und (3) Literatur als Medium der Übertragung, Vermittlung und Produktion kulturhistorischen Pflanzen-Wissens und damit als „nachhaltige For[m] kultureller Praxis“ (Zapf 2019, 361) präsentiert. Wie funktioniert das? Auf welche Weise kann ein pflanzenorientierter Ansatz dazu beitragen, den Schülerinnen und Schülern bei schwierigen Texten die Augen für ein „intensives, vertieftes literarisches Verstehen“ zu öffnen und ihnen „den Erwerb literarischer Kompetenz als Gewinn erfahrbar“ (Spinner 2006, 7) zu machen, also die von Kaspar Spinner formulierten Ziele jeden Literaturunterrichts zu erreichen?
Die themenorientierte Literaturdidaktik schlägt vor, im Unterricht thematische Achsen zu legen, anhand derer die Schülerinnen und Schüler sich den Text erarbeiten. 9 Die Perspektive in einer Unterrichtseinheit auf die Pflanzen zu fokussieren, eröffnet einen gangbaren Weg durch den komplexen Text, eine thematische Achse des Verstehens, die in weiteren Unterrichtseinheiten durch weitere Achsen ergänzt werden kann: Im Fall von Tiecks Elfen wären dies etwa die Themen romantische Erkundung des Unbewussten, frühromantische Poesie, Architektur, Industrialisierung und Modernisierung; auch die Tiere wären einer eigenen Betrachtung wert.
Im Unterrichtsgespräch der Pflanzen-Einheit ist zu fragen: Wo kommen im Text Pflanzen vor? Sind sie an dieser Stelle Metapher oder Teil der erzählten Wirklichkeit? Wer findet noch eine versteckte Pflanze, die bisher niemand genannt hat? Welche Funktion haben die Pflanzen jeweils, welche Bedeutungen sind an welchen Stellen mit ihnen verknüpft, welche menschlichen Figuren interagieren auf welche Weise und mit welchem Ergebnis mit ihnen, was bewirken sie, und mit Bruno Latour: welchen Unterschied machen die Pflanzen in der jeweils erzählten Situation?
Ein pflanzenorientierter Ansatz im Literaturunterricht kann auf diese Weise einen Beitrag zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung leisten, der auch die „kulturelle Dimension der Nachhaltigkeit“ (Kluwick & Zemanek 2019b, 11) sichtbar macht. Eine Literaturdidaktik der Pflanzen zu entwickeln, ist deshalb dringend geboten.
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