Ursula Fiechter / Marco Adamina / Simone Ganguillet / Trime Misini / Beat Reck / Susanna Schwab / Beat Wälti / Laura Weidmann
Jahrgangsübergreifendes Lehren und Lernen im 2. Zyklus
Exemplarische Unterrichtsanalysen und fachdidaktische Herausforderungen
Beiträge für die Praxis, Band 11
ISBN Print: 978-3-0355-1902-0
ISBN E-Book: 978-3-0355-1903-7
1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© 2021 hep Verlag AG, Bern
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1 Einleitung: Jahrgangsübergreifendes Lehren und Lernen im Zyklus 2
Ursula Fiechter, Simone Ganguillet, Trime Misini, Susanna Schwab und Laura Weidmann
In unserem Forschungsprojekt untersuchen wir den jahrgangsübergreifenden Unterricht in fünf Schulfächern im Zyklus 2. Im Lehrplan 21 befasst sich der Zyklus 2 mit den Schulstufen 3. bis 6. Klasse (D-EDK, 2014) resp. dem 3. bis 6. Schuljahr. Beim Zyklus 2 handelt es sich um Schülerinnen und Schüler der Altersgruppe zwischen 8 und 12 Jahren.
Uns interessiert nun die Frage, wie der Lerngegenstand im jahrgangsübergreifenden Fachunterricht von den Lehrpersonen angelegt und von den Schülerinnen und Schülern bearbeitet wird. Diese Fragestellung ist insofern bedeutsam, als insbesondere im Kanton Bern Mehrjahrgangsklassen, also Schulklassen, die zwei oder mehr Schuljahrgänge umfassen, im Zyklus 2 stark verbreitet sind (vgl. Kapitel 1.2). Im Rahmen des Projektes verwenden wir die Begriffe «jahrgangsübergreifendes Lernen» und «jahrgangsübergreifender Unterricht». Die Begriffe «altersdurchmischt», «altersgemischt» und «jahrgangsübergreifend» werden im deutschsprachigen Raum synonym eingesetzt. Aus unserer Sicht bezeichnet der Begriff «jahrgangsübergreifend» jedoch am genausten, dass in der Mehrjahrgangsklasse mehrere Schuljahrgänge zusammengefasst sind. Mit dem Begriff «jahrgangsübergreifendes Lernen» wird ein Unterrichtsarrangement bezeichnet, in dem sich Schülerinnen und Schüler mit einem gemeinsamen Lerngegenstand auseinandersetzen (vgl. Wannack, 2015). Neben den Chancen des jahrgangsübergreifenden Unterrichts bestehen auch Herausforderungen. In Kapitel 1.1werden Chancen und Herausforderungen erörtert, die unser Projekt in die aktuelle Diskussion um (Fach-)Didaktik einordnen und auf die wir uns immer wieder beziehen. Zudem sind diese Konzepte für die Gestaltung des jahrgangsübergreifenden Unterrichts bedeutsam.
1.1 Differenzierung und Individualisierung als Chance und Herausforderung
Lehrpersonen, die an Mehrjahrgangsklassen unterrichten, sind herausgefordert, das fachliche Lehren und Lernen mit den zur Verfügung stehenden Lehr- und Lernmaterialien an die Situation der Mehrjahrgangsklasse anzupassen. Falls sie den Unterricht jahrgangsübergreifend, d.h. ein Lernen am gemeinsamen Lerngegenstand, gestalten möchten, müssen sie Lehrinhalte so differenzieren und individualisieren, dass Lernen am gleichen Lerngegenstand für Schülerinnen und Schüler jahrgangs- und entwicklungsgemischt möglich ist. Da die Lehrperson sich in der Mehrjahrgangsklasse vom Ideal (und von der Fiktion) der leistungshomogenen Lerngruppe verabschieden muss, bedarf es für den Unterricht einer gezielten Auseinandersetzung damit, was von wem und wie gelernt werden soll. Der Fachinhalt sowie die didaktischen Möglichkeiten der Aufbereitung für den Unterricht fordern die Lehrperson heraus, will sie die unterschiedlichen Voraussetzungen der Lernenden in der Mehrjahrgangsklasse berücksichtigen. In diesem Sinne bietet die jahrgangsübergreifende Schulklasse die Chance, den Unterricht weiterzuentwickeln sowie die Adaptivität von Lernangeboten und Lernbegleitung zu verbessern. Gleichzeitig ist diese Chance auch mit Herausforderungen verbunden. Stichworte in diesem Zusammenhang sind Differenzierung und Individualisierung als didaktische Massnahmen.
Reusser und sein Team weisen darauf hin, dass für die beiden Konzepte «Differenzierung» und «Individualisierung» «[e]ine allgemein akzeptierte Definition […] ebenso [fehlt] wie eine genaue Vorstellung des Zusammenspiels» (Reusser et al., 2013, S. 57). In der Diskussion scheint jedoch Einigkeit darüber zu bestehen, dass sich die beiden Begriffe auf die Gestaltung des Lernangebots durch die Lehrperson beziehen. (Innere) Differenzierung oder Binnendifferenzierung soll den Lernenden in der Unterrichtssituation ihren Voraussetzungen entsprechendes Lernen ermöglichen. Dies geschieht durch die Schaffung «unterschiedliche[r] Zugänge und Bearbeitungsmöglichkeiten» (ebd.). Es wird davon ausgegangen, dass Differenzierungsmassnahmen die «Passung zwischen Unterrichtsangebot und individuellen Nutzungsmöglichkeiten» (ebd.) verbessern oder überhaupt erst ermöglichen. In dieser Logik beschreibt (innere) Differenzierung das Lernangebot, Individualisierung bezieht sich dann nach Reusser et al. (2013) auf die Nutzung dieses Angebots durch die Lernenden. Auf eine Kurzformel gebracht heisst dies: Differenzierung schafft Lernangebote für individualisiertes Lernen (vgl. ebd., S. 57). Damit wird der heutigen Vorstellung entsprochen, dass Individuen lernen, d.h., dass sie sich den Lerngegenstand auf ihre eigene Weise aneignen. Für die Lehrperson bedeutet dies, dass sich ihre anspruchsvolle Aufgabe darauf beschränkt, «Lernen via kognitiv aktivierende Angebote anzuregen und die Lernprozesse der Individuen adaptiv und zielbezogen zu begleiten» (ebd.). Wie Reusser und Team weiter betonen, ist die «Notwendigkeit zur Gestaltung solcher Arrangements […] bei Lerngruppen mit erweiterter Heterogenität (u.a. integrative Volksschule, Mehrjahrgangsklassen) offensichtlicher als bei vermeintlich homogenen Jahrgangsklassen in äusserlich gegliederten Schulsystemen» (ebd., S. 57–58).
In Bezug auf die Entwicklung von Unterricht unterscheidet die fachdidaktische Forschung zwischen zwei Aspekten oder Ebenen von Unterricht. Die «Oberflächen-, Sicht- oder Handlungsstrukturebene» bezeichnet «die dramaturgische Gestaltung der Handlungsoberfläche des Unterrichts, die Choreographie, d.h. [die] austauschbaren Methoden, Sozial- und Inszenierungsformen» (Reusser, 2019, S. 144). Davon werden die Tiefenstrukturen von Unterricht unterschieden, welche Unterrichtsmerkmale «wie transparenter Stoffaufbau, Verständnisklarheit, Klassenführung, kognitive Aktivierung und ein lernförderliches Sozialklima ebenso wie eine Grundvorstellung über den Aufbau vollständiger Lehr-Lernzyklen» (ebd., S. 145) umfassen. Diese Unterscheidung wurde und wird in der fachdidaktischen Forschung zu Unterricht stark rezipiert (vgl. Adamina et al., 2019; 2020; Labudde & Metzger, 2019; Fiechter et al., 2015). Sie interessiert uns in Zusammenhang mit Differenzierung und Individualisierung von Lerngegenständen in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik und Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG).
1.2 Mehrjahrgangsklassen im Kanton Bern
Um unsere Fragestellung zu beantworten, beforschten wir den jahrgangsübergreifenden Fachunterricht in zwölf Schulklassen bei insgesamt 14 Lehrpersonen. Dabei suchten wir Lehrpersonen aus, die möglichst jahrgangsübergreifend unterrichten, d.h. die Lerngruppe lernt am gleichen Lerngegenstand. Dank guter Feldkontakte konnten wir meist entsprechende Lehrpersonen finden. In den Fächern Mathematik, NMG und Deutsch konnten wir denn auch durchgängig jahrgangsübergreifenden Unterricht beobachten. Für die beiden Fremdsprachen Französisch und Englisch gestaltete sich die Suche schwieriger. Die Gründe hierfür werden in Kapitel 1.3dargelegt. In neun verschiedenen Schulen beobachteten wir den Unterricht in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch, Mathematik und NMG. Insgesamt waren wir in 99 Lektionen als Beobachtende anwesend. Zudem führten wir Gespräche mit den Lehrpersonen, Schülerinnen und Schülern, sammelten Lernspuren und Unterrichtsmaterialien sowie Informationen über die Schulen. In einzelnen Schulklassen konnte der Unterricht in drei, in anderen in zwei oder auch nur in einem Schulfach beobachtet werden. Tabelle 1 zeigt auf, in welchen Fächern wie viele Lektionen beobachtet wurden, wie viele Lehrpersonen dabei involviert und wie viele Schulklassen je Fach beteiligt waren.
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