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Die Fragen und Probleme des menschlichen Sichdarlebens und Zusammenlebens wenden sich heute immer mehr einer Betrachtung des ganzen Menschen als Persönlichkeit zu, als einer körperlichen, seelischen und geistigen Person. In der Begegnung von Mensch zu Mensch unterliegen wir dauernd der Wirkung des Fluidums oft feinstnuancierter Ausdrucksphänomene, die wir bei einer entsprechenden Sensitivität meist unbewusst empfinden und auf die wir unbewusst reagieren. Nur in wenigen Fällen sind wir imstande, die erlebten Ausdruckserscheinungen auch objektiv bewusst zu bestimmen und in ihrem körperlich-seelischen Sinn zu verstehen.
Ausdruckserscheinungen
So spielt die Gestik bei allen Begegnungen von Menschen neben den Ausdruckserscheinungen der Sprache, wie Dynamik und Klangfarbe des Sprechens, Ruhe oder Hast der Rede, der Sicherheit, Klarheit oder Verworrenheit der Wortbildung, im Gesamtprozess der Wahrnehmung anderer Menschen und ihres Seelenlebens in Form von Körperhaltung und der Körperbewegungen eine entscheidende Rolle.
Gestik
Denken wir dabei an die Formen des Gehens, des Laufens, der hastigen oder ruhigen Handbewegungen oder anderer Körperbewegungen.
Mimik
Das wichtigste und uns ständig gegenübertretende Gebiet unbewusster und bewusster Ausdruckserscheinungen, von denen vornehmlich das zwischenmenschliche Verstehen getragen und beeinflusst wird, ist die Mimik, in ihren vielfältigen und reichen Formen und Formveränderungen des menschlichen Gesichtes. Wir wollen damit den Blick öffnen für eine mannigfaltige Welt von Erscheinungen und Geschehnissen, mit denen das menschliche Antlitz lebendig und dennoch stumm zu uns spricht. Was ist Ausdruck und wie wollen wir ihn speziell im Hinblick auf die Physiognomie des Gesichtes erklären und bestimmen? Dem Begriff des Aus-Druckes liegt der ursprüngliche Wortsinn zugrunde, dass etwas Inneres sich als Äußerung darstellt. Etwas Innerliches, das dem Einzelnen nur in der Verschwiegenheit seiner Selbsterfahrung unmittelbar gegeben ist, tritt als Gegebenheit in die sinnliche Erscheinungswelt und wird damit auch anderen Menschen erfahrbar. Als körperlich-seelisches Wesen hat der Mensch an beiden Sphären teil. Die Oberfläche des Körpers, die Haut, erscheint wie der Übergang vom inneren in den äußeren Bereich. Der Begriff des Innen umfasst wiederum zwei Sphären: die leiblichen Gegebenheiten wie die inneren Organe, die Nerven, Muskeln und die Gewebe sowie Seelisches, nämlich die Inhalte, die Worte und Bilder des Bewusstseins.
Die Funktion des Ausdruckes als Symbol
Der Inhalt einer äußeren sinnenhaft erfahrbaren Wahrnehmung wird als Hinweis auf ein inneres, körperliches und seelisches Geschehen gedeutet, welches der beobachtende Außenstehende nicht direkt wahrzunehmen vermag.
Ausdruck als sinnlichseelisches Spontanzeichen
Zunächst wollen wir einige Beispiele für diese spontanen Ausdruckserscheinungen nennen: der Schrei des Entsetzens, die Beschleunigung des Pulses bei Angst oder Furcht, das Erröten bei Scham oder Verlegenheit, das Weinen bei Schmerz und Trauer, das Lachen bei Frohsinn und Heiterkeit, die aufrechte Haltung des Stolzes und das geduckte Gebaren des Unterwürfigen sind nur einige wenige Beispiele. Seelischer Inhalt und sinnliches Phänomen existieren ineinander und miteinander als ein einziger lebendiger Vorgang leiblich-seelischer Integration (Ganzheit). Aus den Beispielen erkennen wir, dass die Ausdruckserscheinungen des menschlichen Körpers als
1 Ausdrucksbewegung und als
2 Ausdrucksvorgänge
auftreten können. Wenn diese leiblichen Erscheinungen des Ausdruckes im Gesicht auftreten, dann nennen wir dies Mimik, wenn sie das Erscheinungsbild des ganzen Körpers betreffen, Pantomimik.
Der prozessuale Charakter der Ausdruckserscheinungen
Es gibt aber nicht nur diese aktuellen Ausdrucksgeschehnisse, sondern auch bleibende statische Ausdrucksformen. Wir unterscheiden somit
1 von dem aktuellen sukzessiven Ausdrucksgeschehen
2 die statische, sich aus einem Ausdrucksgeschehen ergebende Ausdrucksgestalt.
Mimik und Physiognomik
So ist Physiognomik die auf der Erfahrung aufgebaute und begründete Lehre von den Eigenschaften dauernder, statischer körperlicher Erscheinungen des Menschen, so weit man sie als Zeichen für seelische Eigenarten auffassen kann. Diese statische, über einen längeren Lebenszeitraum hinweg gleichbleibende Ausprägung der körperlichen Erscheinung eines Menschen hat zwei voneinander völlig verschiedene Wurzeln:
1 Die architektonische Eigenart der Gestalt eines Körpers, bedingt durch die morphologische Ausprägung der Knochen, der Gewebe, der Fettschicht und der verschiedenen Größenrelationen der Organe zum Gesamtbild des Organismus und
2 die sich verfestigende Spur eines immer wiederkehrenden mimischen und pantomimischen Geschehens.
Die architektonische Eigenart
Zwischen der architektonischen Eigenart der leiblichen Erscheinung eines Menschen und bestimmten Eigenschaften seiner seelischen Veranlagung bestehen Zusammenhänge:
Das Seelische als prozessuale Potenz, die sich in Dispositionen, in ganz bestimmten Tendenzen zu äußern vermag, ist nicht absolut statischer Natur. Zumindest müssen wir dem seelischen Grundcharakter eines Menschen, der ihm von Natur seit Geburt mitgegeben worden ist, etwas Veränderbares, zur Dynamik Fähiges zuerkennen. Denn sonst wäre jegliche Erziehung und Menschenformung von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das gleiche gilt auch für den nur scheinbar statischen Leib, der ständig eine Regeneration vollzieht, wobei das neu Entstehende dem Vorangegangenen wohl analog und ähnlich, aber nicht mit ihm identisch ist. Insofern können wir feste Formen des Körpers, welche auf der architektonischen Eigenart eines Menschen beruhen, mit Seelischem im Verhältnis eines koexistenten Bedeutungszusammenhanges sehen, wie etwa die Disposition zu bestimmten Empfindungs- oder Antriebserlebnissen. Denn diese Bedeutungszusammenhänge zwischen körperlicher Erscheinung und seelischem Wesen spielen in der Diagnose eine grundlegende Rolle.
Die mimische Spur
Das ursprüngliche, statische Gepräge eines Gesichtes wird überformt von den Spuren sich wiederholender mimischer Ausdrucksgeschehnisse, die sich im Laufe der Jahre verfestigen. Je häufiger und intensiver, insbesondere aber je einseitiger die Betätigung bestimmter Muskeln erfolgt, umso eher und umso stärker hinterlassen sie an der Oberfläche der Haut bleibende Spuren, Einkerbungen und Falten, die man Engramme nennt. Durch das Nachlassen der Haut-Elastizität im Verlauf des Alterns kommt es, dass die Ausprägung mimischer Spuren mit zunehmendem Alter steigt. Beim jungen Menschen glätten sich die Muskeln und die Haut nach einer aktuellen Innovation schnell wieder, im Alter aber hinterlässt das aktuelle mimische Geschehen eine festgeprägte Spur und zeigt dadurch nicht nur für den unmittelbaren Augenblick des mimischen Geschehens seinen seelischen Charakter, sondern auch auf die Dauer, im positiven oder im negativen Sinne. Es kommt dadurch zu einem langsamen Bildungs- und Umbildungsprozess des Gesichtsausdruckes. Es gibt ein Sprichwort, welches besagt, „Bis 30 Jahre hat der Mensch das Gesicht, das ihm die Natur von Geburt aus gab; ab 30 formt er es sich durch das, was er aus sich gemacht hat“. Dieses statische Gepräge eines Gesichtes, welches sich als feste Spur mimischer Geschehnisse herausgebildet hat, ist eindeutig ausdruckswertig und weist auf die seelischen Vorgänge hin. Wir lassen jedoch unbedingt die Möglichkeit offen, dass auch eine Korrelation zwischen der architektonischen Eigenart eines Menschen und bestimmten Regelmäßigkeiten seines seelischen Verhaltens besteht, wie dies beispielsweise die Kretschmersche Typenlehre in ihrer Zuordnung von Körperbau und Charakter wiedergibt und somit Grundlage sein kann für eine entsprechende Diagnostik.
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