Die Wahlbeteiligung lag mit 93,4 Prozent außerordentlich hoch. Klarer Wahlsieger war die »Allianz für Deutschland«, mit 48,1 Prozent, wobei die alte Block-CDU mit über 40 Prozent die mit Abstand stärkste Partei wurde. Die Unterstützung aus dem Westen, Kohls deutliches Bekenntnis zur Einheit, vor allem die Perspektive wirtschaftlicher Einheit und die breite Ablehnung sozialistischer Perspektiven gleich welcher Prägung waren Gründe für diesen Sieg. Die im Bündnis 90 vereinten Reformkräfte kamen nur auf 2,9 Prozent der Stimmen. Die PDS errang dagegen über 16 Prozent. Die so hoch gehandelte SPD erlangte nur knapp 22 Prozent. Das Wahlergebnis musste bitter sein für all jene, die sich mit aller Kraft für eine Veränderung der Verhältnisse in der DDR eingesetzt hatten und die, nachdem das Ziel der Einheit eindeutiger Wunsch der Mehrheit der DDR-Bevölkerung war, für einen Neuanfang in einem vereinten Deutschland eintraten.
Mit dem Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 war deutlich geworden, dass das Ziel der staatlichen Einheit von einer großen Mehrheit der DDR-Bevölkerung angestrebt wurde. Für dieses Ziel stand die neu gebildete Regierung mit Lothar de Maizière als Ministerpräsident an der Spitze. Der seit November 1989 amtierende Vorsitzende der DDR-CDU bildete eine Koalitionsregierung, die die Parteien der »Allianz für Deutschland« sowie die Liberalen und die SPD einschloss. Die Einbeziehung der SPD war vor allem deshalb erforderlich, weil für eine Reihe der anstehenden Vorhaben, die mit der Einheit Deutschlands zusammenhingen, eine Zwei-Drittel-Mehrheit in der Volkskammer erforderlich war. Das Ziel der Einheit war in der Koalitionsvereinbarung vom 12. April festgeschrieben. Die neue Regierung der DDR wollte die »Einheit Deutschlands nach Verhandlungen mit der BRD auf der Grundlage des Art. 23 GG zügig und verantwortungsvoll« herbeiführen. 9
Die Regierung de Maizière setzte sich aus Menschen zusammen, die über wenig oder keine administrative Erfahrungen im politischen, staatlichen Rahmen verfügten. Als Pfarrer und Theologen hatten manche von ihnen allenfalls im kirchlichen Bereich Verwaltungserfahrungen sammeln können. Sie standen jeweils Ministerien vor, die in den untergeordneten Ebenen aus dem bisherigen Personal bestanden, das allerdings loyal mitarbeitete. Die Regierung de Maizière trat mit dem Anspruch an, die Sache der DDR-Bürger so gut wie möglich zu vertreten. Man wolle, so der Regierungschef bei seiner Regierungserklärung am 19. April 1990, Bedingungen vereinbaren, »die sichern, daß die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden.« An die Adresse der Westdeutschen gewandt, betonte er, was die DDR-Bevölkerung einbringen könne: eigene »geschaffene Werte und unseren Fleiß«, »Sensibilität für soziale Gerechtigkeit, für Solidarität und Toleranz«, und er erinnerte daran, dass die Menschen in der DDR »40 Jahre die schwere Last der deutschen Geschichte tragen« mussten. »Die DDR erhielt bekanntlich keine Marshall-Plan-Unterstützung, sondern sie mußte Reparationsleistungen erbringen. Wir erwarten von Ihnen keine Opfer. Wir erwarten Gemeinsamkeit und Solidarität. Die Teilung kann tatsächlich nur durch Teilen überwunden werden.« 10
2.3 Verträge für die Einheit
In die Amtszeit der Regierung de Maizière fiel der Abschluss der Vertragswerke, die die staatliche Einheit Deutschlands möglich machten. Dies waren der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik (Staatsvertrag) vom 18. Mai 1990, der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31. August 1990 (Einigungsvertrag) und der Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland vom 12. September 1990 (»Zwei-plus-Vier-Vertrag«).
Mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde das Ende der sozialistischen Planwirtschaft besiegelt und die soziale Marktwirtschaft nach dem Modell der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR übertragen. Dies galt auch für das Sozialsystem (Arbeitsrecht, Sozialversicherung usw.), das ebenfalls nach dem bundesrepublikanischen Muster in der DDR eingeführt wurde. Die Währungsunion wurde zum 1. Juli 1990 vollzogen. Sämtliche Löhne, Gehälter, Renten und sonstige laufende Unterhaltszahlungen (z. B. Stipendien) wurden zu einem Kurs von 1 : 1 (DDR-Mark zu Deutsche Mark) umgestellt. Bargeld und Sparguthaben sollten für Kinder bis zu 14 Jahren in einer Höhe bis zu 2.000 Mark, bei Personen von 15 bis 59 Jahren in einer Höhe bis zu 4.000 Mark und bei Personen ab 60 Jahren in einer Höhe bis zu 6.000 Mark ebenfalls zu einem Kurs von 1 : 1 umgetauscht werden. Alle darüber liegenden Beträge sowie alle sonstigen Forderungen und Verbindlichkeiten (z. B. Kredite) wurden im Kurs 2 : 1 umgestellt. 11
Am 31. August 1990 unterzeichneten Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und DDR-Staatssekretär Günther Krause den Einigungsvertrag. Dieses 900 Seiten umfassende Vertragswerk einschließlich Anlagen regelte alle Bereiche, die für den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes von Relevanz waren. Dies waren der Tag des Beitritts, Rechtsangleichung sowie sämtliche Bereiche staatlichen Lebens (Verwaltung, Finanzen und Vermögensfragen, Gültigkeit völkerrechtlicher Verträge, Arbeit und Soziales, Bildung und Wissenschaft). Dazu kamen Übergangsbestimmungen, etwa in der umstrittenen Frage des Schwangerschaftsabbruchs; hier galten die unterschiedlichen Regelungen der Bundesrepublik (Indikationsregelung) und der DDR (»Fristenlösung«, d. h. straffreier Abbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen) vorerst weiter. 12
Die Entscheidung, den Einigungsvertrag als zweiten Staatsvertrag zu schließen, ging auf das Drängen der DDR und Lothar de Maizières zurück. Die DDR trat so als Verhandlungspartner auf und nicht lediglich als beitretendes Territorium. Zudem war es durchaus sinnvoll, die vielfältigen erforderlichen Regelungen in einem Vertragswerk zu bündeln und nicht in zahlreichen einzelnen Übergangsregelungen zu fassen. Aber wie ungleich die Verhandlungspartner und ihre Ausgangspositionen waren, zeigte sich an der Entwicklungsgeschichte der Verträge und an den verhandelnden Personen.
Der erste Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 kam im Wesentlichen auf der Basis eines von der westdeutschen Ministerialbürokratie ausgearbeiteten Entwurfs zustande. Die westliche Seite hatte die Initiative ergriffen und mit Hans Tietmeyer, vormals Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und seit Januar 1990 im Direktorium der Bundesbank, saß ein ausgewiesener Experte für Finanzfragen am Verhandlungstisch. Für Ost-Berlin führte der Parlamentarische Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten der DDR Günther Krause die Gespräche. Er war Dozent an der Ingenieur-Hochschule in Wismar und nahm für die DDR als Chefverhandler im Einigungsprozess eine herausragende Stellung ein. Bei aller Energie, mit der Krause an seine Aufgabe heranging, die Kompetenzunterschiede waren doch deutlich. 13
Auch bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag zeigte sich die unterschiedliche Ausgangslage. Am 6. Juli 1990 begannen die Verhandlungen. Wolfgang Schäuble, Bundesinnenminister und Verhandlungsführer für die Bundesrepublik, hatte zwar mit Rücksicht auf die Verhandlungsposition der DDR-Seite auf einen vorgefertigten Vertragsentwurf verzichtet. Gleichwohl war bereits am 25. Mai 1990 im Bundesinnenministerium ein Entwurf über »Grundstrukturen eines Staatsvertrages zur Herstellung der deutschen Einheit« formuliert worden. Vier Tage später wurde dieser Entwurf dem ostdeutschen Verhandlungsführer Günther Krause überreicht. Dieser legte nur ein knappes Papier zur »Einheit Deutschlands« vor. 14
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