Eine längst in den Hintergrund geratene Diskussion flammte wieder auf. Der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Herbert Czaja, bezeichnete die Westverschiebung Polens als einen Willkürakt Stalins, der nie durch eine friedensvertragliche Regelung festgeschrieben worden sei. Die Grenzfrage sei also immer noch offen. Einer derartigen Argumentation fehlte jeglicher Bezug zur historischen Entwicklung, vor allem im Zusammenhang mit den seit den 1970er Jahren geschaffenen Realitäten der Entspannungspolitik. Zudem ließ sie völlig außer Acht, welche Konsequenzen ein deutscher Anspruch auf die nunmehr polnischen ehemaligen deutschen Ostgebiete haben würde. Letztlich setzte sich in der CDU, der Czaja angehörte, eine deutliche Position für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und deren völkerrechtliche Vereinbarung in einem Vertrag mit Polen durch. In einer Abstimmung des Bundestages am 21. Juni 1990 stimmten lediglich 15 Vertreter aus den Reihen der Vertriebenen gegen den entsprechenden Antrag. 25Am 14. November 1990 schließlich unterzeichnete Außenminister Genscher in Warschau den deutsch-polnischen Grenzvertrag.
In der ebenfalls umstrittenen Frage der Bündniszugehörigkeit Deutschlands agierte der sowjetische Partei- und Staatschef Gorbatschow auf schwierigem Terrain. Zum einen gab es Berater in seinem engsten Bereich, die bereit waren, ein vereintes Deutschland als NATO-Mitglied zu akzeptieren, deutlich stärker jedoch waren jene Kräfte, die dies klar ablehnten. Valentin Falin, Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, war einer jener Vertreter, die sich weiterhin an einer Weltmachtposition der Sowjetunion orientierten, er hatte gar die Vorstellung, ein vereintes Deutschland solle Mitglied des Warschauer Vertrages werden 26. Gorbatschow war, nicht nur qua seines Amtes, die Schlüsselfigur. Solange er im Amt war, standen die Möglichkeiten einer Einigung gut, zugleich durfte der Prozess nicht so forciert werden, dass er unter weiteren Druck der Hardliner in der Sowjetunion geriet und möglicherweise sogar sein Amt verlor – eine Befürchtung, die sich im folgenden Jahr mit dem Putschversuch im August 1991 und Gorbatschows Amtsverlust im Dezember dieses Jahres bewahrheiten sollte.
Eine entscheidende Veränderung vollzog sich bei Gorbatschow in der Bündnisfrage im Mai 1990. Dabei spielte nicht zuletzt die problematische wirtschaftliche Lage der Sowjetunion eine Rolle. Tatsächlich war die Sowjetunion an Krediten interessiert, die ihr die bundesdeutsche Regierung im Mai auch konkret in Aussicht stellte. Kohl schrieb am 22. Mai 1990 in einem Brief an Gorbatschow, er verbinde mit dem Kreditangebot die Erwartung, dass die Sowjetunion in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen alles unternehme, »um die erforderlichen Entscheidungen herbeizuführen, die eine konstruktive Lösung der anstehenden Fragen noch in diesem Jahr ermöglichen«. 27Die Einheit zu den dann vereinbarten Bedingungen war nicht einfach gekauft – aber die Kreditfrage spielte eine Rolle und Kohl brachte diesen Zusammenhang ganz offen zur Sprache.
Am 31. Mai 1990 weilte Gorbatschow in Washington und ließ in Gesprächen mit Präsident George H. W. Bush durchblicken, dass er mit der freien Bündniswahl eines vereinigten Deutschland einverstanden sei. 28Gorbatschow ließ sich offenkundig überzeugen, dass er nicht einerseits die Einheit Deutschlands akzeptieren, andererseits aber die freie Entscheidung des vereinten Deutschlands in der Bündnisfrage torpedieren könne. Auch die von »Konservativen« wie Falin vorgebrachten Sicherheitsinteressen der Sowjetunion schienen angesichts einer in die NATO integrierten deutschen Militärmacht besser gewährleistet als von einem neutralen, unabhängig handelnden Deutschland. 29Die US-Vertreter hatten das Zugeständnis gemacht, dass es keine Erweiterung der NATO Richtung Osten, d. h. über das Territorium der DDR hinaus, geben werde – eine Zusage, die unter Präsident Bill Clinton keinen Bestand mehr hatte, zu einem Zeitpunkt allerdings, als es die Sowjetunion nicht mehr gab. 30Bei Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Kohl wurde im Juli 1990 der Durchbruch erzielt. Kohl reiste am 14. Juli 1990 in die Sowjetunion und bereits bei einem Gespräch im Gästehaus des Außenministeriums am 15. Juli gestand Gorbatschow zu, dass Deutschland weiterhin Mitglied der NATO bleiben könne. 31Symbolträchtig in Szene gesetzt wurde dieses Zugeständnis dann beim Besuch in Gorbatschows Jagdhaus im Kaukasus am folgenden Tag. In lockerer Atmosphäre, Gorbatschow im Pulli und Kohl in Strickjacke, bestätigte der sowjetische Partei- und Staatschef am 16. Juli, dass das vereinigte Deutschland in der Bündnisfrage frei entscheiden könne. Dass dieser Durchbruch von bundesdeutschen Politikern – ohne Einbeziehung der DDR-Regierung – erzielt wurde, wirft ein weiteres bezeichnendes Bild auf das unterschiedliche politische Gewicht der beiden deutschen Staaten in jener Phase vor dem Vollzug der deutschen Einheit.
Der am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnete Zwei-plus-Vier-Vertrag bestimmte, dass nach Abzug sowjetischer Truppen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR deutsche Streitkräfte stationiert werden könnten. Verbunden war dies mit einer deutlichen Reduzierung der deutschen Streitkräfte, die 1990 zusammengenommen etwa 600.000 Personen umfasste. In den kommenden drei bis vier Jahren sollten sie auf 370.000 reduziert werden. Ebenfalls in diesem Zeitraum sollten die sowjetischen Truppen abgezogen werden, dies war 1994 der Fall.
Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde die endgültige und vollständige Herstellung der Souveränität des geeinten deutschen Staates festgelegt. In Artikel 7 hieß es, das vereinte Deutschland habe die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten; die vier Siegermächte beendeten ihre noch bestehenden Rechte in Bezug auf Deutschland als Ganzes. Auch Deutschlands Grenzen wurden endgültig festgelegt, einschließlich der Oder-Neiße-Grenze zu Polen.
Nach der vertraglichen Regelung der innerdeutschen Fragen waren damit auch die außenpolitisch relevanten Rahmenbedingungen für die Vereinigung vertraglich vereinbart. In der Nacht von 2. auf den 3. Oktober 1990 konnten die Deutschen die vollzogene Einheit feiern.
3 Nation und »innere Einheit«
»Während sich der Lustgarten, traditionsreicher Ort vieler Aufmärsche der revolutionären Arbeiter, füllte, sangen Zehntausende die Kampflieder mit, die aus den Lautsprechern ertönten.« 1Mit diesem Satz eröffnete das SED-Zentralorgan »Neues Deutschland« nicht etwa einen Bericht aus den 1950er Jahren, sondern einen Artikel über eine Kundgebung am 10. November 1989 in Berlin. Es war der Abend nach der Maueröffnung. Wer die Wochenendausgabe des »ND« vom 11./12. November 1989 zur Hand nahm, konnte sich in vergangenen Zeiten wähnen. »Kommuniqué der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED«; »150.000 Genossen bei Kundgebung in Berlin«, so lauteten die Überschriften auf der Titelseite des Parteiorgans, das im Titel noch immer das Motto aus dem Kommunistischen Manifest von 1848 führte: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«. Während am historischen Platz vor dem Alten Museum und dem Berliner Dom Grundorganisationen der SED zusammen mit dem amtierenden Generalsekretär Egon Krenz über die Erneuerung der SED sprachen, fand einige Kilometer westlich eine andere Kundgebung statt. Vor dem Schöneberger Rathaus, dem Regierungssitz des West-Berliner Senats, hatten sich mehrere 10.000 Menschen versammelt; auf dem Podium stand Politprominenz aus der Bundesrepublik und aus Berlin (West); Bundeskanzler Kohl hatte eigens seine Polen-Reise unterbrochen und in Berlin Station gemacht. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper (SPD), sprach auf dieser Kundgebung den viel zitierten Satz aus, die Deutschen seien nun »das glücklichste Volk der Welt« 2. Die Veranstaltung schien das nicht zu bestätigen. Sie endete in einem Pfeifkonzert gegen den Bundeskanzler. Eine musikalisch reichlich verunglückte Darbietung der Nationalhymne durch die Spitzenpolitiker auf der Bühne geriet zur unfreiwilligen Kabarettnummer. Die Berliner Tageszeitung »taz« ließ die Melodie auf Schallplatte pressen, der spöttische Titel: »Deutschland-Lied. Schöneberger Fassung«. 3In der »taz« war am 11. November 1989 ein Kommentar zu den beiden Veranstaltungen zu lesen: »Am vergangenen Abend, als sich die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner im Westen tummelte«, habe das neugewählte Politbüro in den Lustgarten gerufen, »und 150.000 kamen. […] Die Herren benahmen sich, als hätten sie dem Volk gerade einen Schnuller in den Mund gesteckt und könnten jetzt zur Tagesordnung übergehen. […] Während sich die einen im Lustgarten beklatschen ließen, wurden vier andere auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses ausgepfiffen. Die Verhältnisse entgleiten uns.« 4
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