Nach dem Abschlussfest ging Rati Dina eine ganze Weile aus dem Weg. In jenem Sommer gab er wieder den harten Straßencowboy, verbrachte die Zeit mit seinen Freunden im Viertel und fuhr das erste Mal allein mit Saba und seinem ewigen Komplizen Sancho (wie kamen sie bloß auf diesen Namen? Hatte er wirklich eine Ähnlichkeit mit Sancho Panza, und wer von ihnen hatte »Don Quijote« überhaupt jemals aufgeschlagen?) ans Meer, nach Batumi, eine Reise, die mein Vater ihm aus Freude über den Abschluss bereitwillig bezahlte.
Rati kam Ende August wieder, braun gebrannt, athletisch, und fragte mich, noch während er mir kleine Mitbringsel aus Batumi aushändigte, über meine »verrückte Freundin« aus. Sie sei die ganze Zeit am Fotografieren, erzählte ich ihm, habe von ihrer Mutter eine Kamera geschenkt bekommen und sei seitdem vollkommen abgetaucht. »Aha«, sagte Rati nur und verlor sich in einer vorgetäuschten Beschäftigung. Ein paar Tage später weckte mich Vaters wütende Stimme, ich brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass seine Wut Rati galt. Ich kam in die Loggia und sah meinen Vater aufgeregt auf und ab laufen, während Rati seelenruhig seinen geliebten schwarzen Tee trank.
– Dieser Idiot hat …
Vater schien vor Zorn kaum Luft zu kriegen.
– Was hast du schon wieder getan? Was?
Ich sah meinen Bruder genervt an.
– Er hat die Kamera deiner Mutter … deiner Mutter verschenkt. Eine echte Leica, ein unglaublich wertvoller Apparat, er hat ein Vermögen gekostet …
Er konnte vor Empörung kaum reden. Ich wusste, dass wir eine kostbare Kamera besaßen, die ihm Prochorow selbst aus Europa mitgebracht hatte – so wollte es zumindest die Legende –, aber diese Aufregung konnte ich beim besten Willen nicht mit der Kamera in Verbindung bringen, die er selbst niemals benutzte und die über die Jahre im Regal verstaubte.
– Wie ein Dieb ist er in mein Zimmer geschlichen und hat sie entwendet! Er hat sie verschenkt, um bei einem Mädchen Eindruck zu schinden.
Jetzt erst begriff ich den Zusammenhang. Rati hatte Dina die Leica unserer Mutter geschenkt. Und das wiederum ließ mich aufhorchen: Er hatte Dina etwas von seiner Mutter, seinem großen Idol, überlassen, was nur bedeuten konnte, dass es ihm mit ihr ernster war, als ich angenommen hatte.
– Er hat sie Dina geschenkt, Papa, meiner Dina. Das ist nicht irgendein Mädchen, versuchte ich zu schlichten, allerdings erfolglos.
– Das ist absolut egal. Er hat sie entwendet, ohne mich zu fragen.
– Du hast sie nie benutzt. Es ist doch sinnlos, so eine Spitzenkamera verrosten zu lassen! Sie wird damit tolle Fotos machen, insistierte Rati.
– Edelmetall mit einer Magnesiumlegierung rostet nicht, du Idiot, fluchte Vater, und Speichel flog aus seinem Mund bis auf meine Nasenspitze.
– Ich werde es ihr erklären, und sie gibt sie wieder zurück, Papa, beruhige dich, sie wird es verstehen, murmelte ich.
– Auf keinen Fall wirst du das, hörst du, Keto? Ich bringe dich um, wenn du das tust!, schrie Rati.
– Diese Kamera hätte niemals dieses Haus verlassen dürfen!
Mit diesem Satz stürmte Vater aus dem Zimmer. Rati und ich blieben allein zurück, verdutzt standen wir voreinander.
– Warum hast du das getan? Ich meine, du wusstest doch, dass er ausrasten würde.
Ich setzte mich an den Tisch und atmete tief durch.
– Sie lag einfach nur rum und fing Staub.
– Aber er hat sie Deda geschenkt.
– Deda hätte sich gefreut. Sie hat bestimmt nicht gewollt, dass sie als Souvenir in einem Schrank endet.
– Ja, aber sie gehört halt ihm.
– Nein, sie gehört nicht ihm. Sie hat Deda gehört. Es ist eh egal, jetzt gehört sie Dina.
Mein Vater tobte auch die kommenden Tage, forderte uns unentwegt auf, die Kamera zurückzuholen, bis Eter irgendwann beim Abendbrot rausrutschte:
– Bring doch den Jungen nicht in diese missliche Lage. Er flieht ohnehin schon die ganze Zeit vor uns, liefere ihm jetzt nicht auch noch einen weiteren Anlass, seine Familie zu meiden. Er ist gerade in einem schwierigen Alter, wir müssen uns alle in Nachsicht üben. Eigentlich müsstest du ihn sogar im Gegenteil belohnen und loben, Guram. Er wollte das Mädchen beeindrucken, und wenn es dir um den Film geht, der noch in der Kamera steckt, dann kann man sie ja bitten, ihn uns zurückzugeben, sie ist schließlich ein gescheites Mädchen. Deine Schwiegermutter (so nannte sie Oliko immer, wenn sie mit ihrem Sohn sprach) kann das doch in die Wege leiten, sie gibt ihr schließlich Nachhilfeunterricht, und schon haben wir das Problem gelöst.
– Was für ein Film?, fragten Oliko und ich fast gleichzeitig.
– Findest du es angebracht, jetzt dieses Thema anzuschneiden, Deda?, zischte Vater und griff zur Butter.
– Was für ein Film?
Oliko würde nun keine Ruhe mehr geben.
– Sag es ihr, Guram. Jetzt ist es eh egal. Wir müssen das Problem lösen.
– Und genau das ist der Grund, warum ich dir nichts mehr erzählen werde!, brummte mein Vater und spielte auf sein enges Verhältnis zu Oliko an, die seine Geheimnisse hütete und sich nicht selten im Streit zwischen Esma und ihm auf seine Seite geschlagen hatte, während seine eigene Mutter ihn nun in dieser heiklen Situation noch mehr unter Druck setzte.
– Was für ein Film? Guram, wovon redet sie?
Oliko hörte nicht auf.
– Wir sollten das Thema vertagen. Keto …
– Nein, ich werde jetzt nicht auf mein Zimmer gehen. Vielleicht betrifft mich diese Geschichte auch ein kleines bisschen? Dina ist schließlich meine beste Freundin.
Meine armseligen Argumente klangen wenig überzeugend, das war mir durchaus bewusst, aber ich wusste nicht, was ich sonst anführen konnte, um nicht wie ein kleines Kind weggeschickt zu werden.
– Die Kamera war mit in den Bergen.
Eter beendete die unerträgliche Anspannung.
– Sie hatte sie dabei, als … als das passiert ist. Aber er will den Film, der darin ist, partout nicht entwickeln. Was auch sein gutes Recht ist, schob sie beschwichtigend hinterher.
– Ist es wegen …? Ist es … Willst du den Film wegen ihm nicht entwickeln?
Olikos Stimme riss ab, und sie hielt sich den Mund zu.
– Wer ist dieser ihm ? Hallo?
Ich hielt die unsägliche Spannung nicht länger aus, und zugleich fürchtete ich mich vor der Antwort.
– Deine Mutter hatte einen lieben Freund, auf den dein Vater etwas eifersüchtig war.
Eters säuselnder Tonfall gefiel mir nicht. Sie sprach mit mir, als wäre ich fünf.
– Einen lieben Freund? Einen lieben Freund also, ja, Deda? Bravo! Wunderbar!
Vater machte auf dem Absatz kehrt und verließ die schluchzende Oliko, die pikierte Eter und mich, die in der eigenen Angst gefangene Tochter, die versuchte, erwachsener zu wirken, als sie in Wirklichkeit war.
– Sie hätte dich niemals verlassen, sie hatten nichts miteinander, Guram, wie oft soll ich es dir noch sagen, sie waren befreundet, kannten sich seit der Kindheit, sie haben sich halt gut verstanden, meine Güte, hätten sie etwas miteinander anfangen wollen, hätten sie es vor deiner Zeit getan, sie haben einfach die gleiche Leidenschaft geteilt, Guram, ich bitte dich, sei nicht albern und komm zurück!
Babuda zwei wischte sich mit den Ärmeln die Tränen weg, während Babuda eins sie mit verächtlichem Blick streifte und den Kopf schüttelte.
Nachts klopfte ich an die Tür meines Vaters und setzte mich auf den Rand seines ewig quietschenden, prähistorischen Holzbettes, das er um keinen Preis austauschen wollte. Er lag mit dem Rücken zu mir und war in ein Buch vertieft.
– Ich besorge dir den Film, sagte ich ihm.
– Ist gut. Das Ganze sollte dich überhaupt nicht betreffen, du bist ein gutes Mädchen, murmelte er, ohne mich anzusehen, und ich hasste ihn in dem Moment für diesen beiläufigen Satz, der hohl wie eine Floskel klang. Ich wollte längst kein gutes Mädchen mehr sein, ich wollte ich sein, ich sein dürfen. Was würde der Film zeigen, was mein Vater so viele Jahre nicht sehen wollte? Eine tollkühne und zugleich glückliche Gruppe von Bergsteigern im Großen Kaukasus, bevor sie von einer Lawine erfasst wurde, oder eine Frau, die auf der Suche nach sich selbst in die Arme eines anderen Mannes geraten war?
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