Damals starrten wir in einen grimmigen, wolkenverhangenen Septemberhimmel. Veränderung lag in der Luft, aber wir hatten Wichtigeres zu erledigen, als uns um die Politik zu scheren. Alles, was zählte, war das Jetzt. Wir taten alles, um der Dauerbeschallung durch die bläulich vom Bildschirm flackernden Propaganda und der seit dem 9. April über die Stadt verhängten Ausgangssperre zu entgehen. Wir flohen, wenn sich die Erwachsenen wieder einmal in erregte politische Diskussionen verstrickten, die jeden Tag, auch im Hof, unter den Nachbarn ausgetragen wurden. Wir wollten uns weder über die »abchasische Frage« noch über die »nationale Frage« unterhalten, wir wollten weder »Minderheitenprobleme« erörtern noch die Toten zählen, die vor wenigen Monaten bei der Demonstration vom 9. April ihr Leben ließen und an die uns täglich rote Tulpen auf dem Rustaweli-Boulevard erinnerten. Wir schafften es sogar, die patrouillierenden Soldaten und russischen Panzer zu ignorieren, die die Hauptstraßen blockierten. Der eigenen Familie allerdings war schwer zu entgehen: Denn nach dem 9. April, dem Giftgas, den Spaten, die die Köpfe, Schläfen und Nacken der Demonstranten trafen, nach blutüberströmten Straßen, abgedeckten Leichen und gehäuteten Hoffnungen war in Babuda zwei eine furchtlose Entschiedenheit erwacht, die einen wirklich ängstigen konnte. Ihr versöhnliches und harmonisches Wesen war zu etwas Kompromisslosem und Zornigem mutiert. Der jahrelang angestaute unterdrückte Hass auf das System, das ihr alles genommen hatte, brach sich Bahn und verwandelte die ansonsten so weiche, liebevolle Oliko in eine blinde
Agitatorin.
– Der gehört gesteinigt und gehängt. Elend lang sollte man den die Straßen hinunterjagen und lynchen, ja lynchen, für alles, was er uns angetan hat!, rief sie fauchend aus, als sie Gorbatschows Neujahrsansprache im Fernsehen hörte. – Und in Europa glauben sie, der sei klug und will für alle Völker Frieden! Wie blind kann man bloß sein. Es langt, dass die ihre Mauer geöffnet bekommen, und schon wollen sie nichts mehr sehen und hören, wütete sie weiter, während mein Vater den Sekt entkorkte und mit einem feierlichen Gesicht darauf wartete, mit uns auf das neue Jahr 1990 anzustoßen. – Der ist nur halbwegs schlau und ausnahmsweise mal kein Säufer, Bauerntrampel oder Psychopath wie seine Vorgänger. Aber ruinieren wird er uns genauso!
Oliko konnte sich gar nicht einkriegen. Wir standen verdutzt um den Tisch herum, irgendwann ging Rati zum Fernseher und schaltete ihn aus, damit wir endlich anstoßen und uns alles Gute wünschen konnten, aber natürlich kam es nicht dazu, da nun Babuda eins der Kragen platzte:
– Bist du völlig wahnsinnig geworden? Schau dich doch um, hör doch zu, wie deine Universitätsfreunde reden, diese Nationalisten, gewissenlose Faschisten sind das, sage ich dir, Nationalismus an jeder Ecke, und wenn man uns lässt, werden wir uns alle gegenseitig umbringen!, schlussfolgerte sie und zeigte mit dem Finger auf den nun dunklen Bildschirm. – Hör doch, wie die über Abchasen reden, deine Freunde, ich war neulich in der Bibliothek und habe Kote getroffen, den aus der Anglistik, und war schockiert, als er mir sagte, man solle mit denen das machen, was Stalin schon so erfolgreich praktiziert hätte. Wenn es denen bei uns nicht passe, hat er gesagt, dann bitte sehr, dann sollten alle Schiffe besteigen, und weg mit ihnen, es gebe viele unbewohnte Flecken auf dieser Erde, in Sibirien könnten sie dann mit ihren Russen auf die Völkerfreundschaft trinken, ahmte Eter diesen uns unbekannten Anglistik-Kote nach.
– Können wir jetzt endlich anstoßen?!, rief mein Bruder genervt.
– Nein!, brüllte Babuda zwei. – Wen wundert es, dass Kote so redet? Wen? Fast siebzig lange Jahre waren wir Sklaven, und die Menschen begehren jetzt endlich auf, was daran ist so schwer zu verstehen? Aber so, wie du da redest, merke ich, wie fantastisch die Propaganda funktioniert: Sie haben deine Familie ausgerottet, und trotzdem nimmst du sie noch in Schutz und willst weiterhin ihr Sklave bleiben.
– Du und deine Freunde, ihr seid blind und taub und versinkt in eurem degenerierten nationalistischen Patriotismus. Ja, wir sind die Besten, die Tollsten, und unsere Kultur ist das Größte, wir sind das glückliche, gottgesegnete Land, um das uns alle beneiden, glaubst du wirklich an diesen ganzen Schwachsinn?
Eter ließ ihren Blick dramatisch umherschweifen.
Rati, dessen aufsteigenden Groll man an den bebenden Nasenflügeln ablesen konnte, senkte kurz den Blick, um Olikos pathetischem Augenaufschlag auszuweichen.
Eter setzte nach: – Das Ganze wird so oder so in die Brüche gehen, schau dich nur um, das Land ist am Ende, die Russen haben momentan genügend eigene Probleme, sie werden die Unionsrepubliken nicht halten können. Du hast doch gesehen, wie sie am 9. April reagiert haben. Ich will einfach kein neues sinnloses Blutvergießen.
Eter ließ sich erschöpft auf den Stuhl fallen und griff die auf dem Journaltisch liegende, von beiden Babudas geschätzte »Literaturnaja Gaseta« und fächerte sich damit Luft zu.
Babuda zwei setzte sich steif und mit steinerner Miene auf ihren Stuhl und warf verächtliche Blicke in Eters Richtung: – Du hast bestimmt 1981 vor dem Sportpalast gestanden und ihm zugewinkt, was? Richtig euphorisch bist du gewesen, wie ich dich kenne, und hast ihm Blumen mitgebracht, und vielleicht bist du sogar zum Konzert gegangen und hast ihm zu Ehren diese ganze Maskerade mitgemacht …
Rati und ich sahen uns irritiert an, wir hatten keine Ahnung, um wen es ging und worauf Olikos Gegenangriff zielte.
Ich schaute die zierliche Mutter meiner toten Mutter an, ihre hellen, aufgeweckten Augen, Lippenstiftreste um den schmalen Mund, die feine Nase einer Statue, die gekonnt nach hinten gekämmten und von einer Silberspange zusammengehaltenen hellbraun gefärbten Haare. Und auf der anderen Seite die stämmige, hochgewachsene Eter, die vor Wut bebende volle Brust in einem formlosen dunkelbraunen Wollkleid (davon schien sie endlos viele zu besitzen, der Schnitt war stets der gleiche, nur die Farbe variierte von dunkelgrün bis dunkelgrau). Eter mit der strengen Miene einer Internatsdirektorin, mit dichten Augenbrauen, die mein Vater geerbt hat, mit ihren hohen Wangenknochen und der typisch georgischen Adlernase, mit ihren wachen dunkelbraunen Augen, denen nichts zu entgehen schien, und mein Herz zog sich
zusammen.
– Von wem redet sie? Wen hast du mit Blumen empfangen?, wollte Rati sofort von Babuda eins wissen, die sich kopfschüttelnd und sichtlich aufgebracht mit der Literaturzeitschrift noch intensiver Luft zufächerte.
– Sie meint wohl Breschnew, der 1981 auf Staatsbesuch hier in Georgien war, erläuterte Eter, – und die sogenannte Elite hat ihm natürlich einen triumphalen Empfang bereitet, und deine Großmutter ist sich nicht zu schade, mich mit diesen Leuten in einen Topf zu werfen, die ihm ohne jede Ehre und ohne Scham in den Hintern gekrochen sind, in der Hoffnung auf mehr Privilegien!
– Hört auf, hört sofort auf, sonst schnappe ich mir Rati und Keto und verlasse ein für alle Mal diese Wohnung!, wütete mein Vater und strafte seine Mutter und seine Schwiegermutter mit zornigen Blicken, das Sektglas umklammernd. Rati zwinkerte mir zu, und wir setzten sofort düstere Mienen auf, um Vaters Drohung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Das Kriegsbeil war somit kurzzeitig begraben. Und so schlossen wir Frieden und stießen alle auf das neue Jahr an.
Rati. Welcher der vielen Ratis wird mich von diesen Wänden anstarren, vor welchem werde ich am längsten stehen bleiben? Schon ist sie wieder da, die ganze Widersprüchlichkeit, seine federleichte, honigsüße Zärtlichkeit, die mit galligem Zorn und glühender Wut abwechseln konnte. Er gab mir Orientierung, war mein Steuermann in der undurchschaubaren Welt der Erwachsenen. Und er schenkte mir seine direkte Erinnerung an unsere Mutter. Es ist merkwürdig, denke ich, dass es ausgerechnet Rati war, der mir in der Kindheit die größte Sicherheit und Stabilität vermitteln konnte. Wie sehr ich seinen hitzigen Kopf, sein aufbrausendes Temperament, seine Begeisterungsfähigkeit und seinen Gerechtigkeitssinn brauchte. Alles bei ihm hing mit unserer toten Mutter zusammen; sie war sein Tempel, seine Heilige, sein Maßstab. Er verehrte das Bild, das er von ihr hatte, und maß ihrer Andersartigkeit einen so hohen Stellenwert bei, dass sie im Laufe der Jahre zur Legitimation und zum Schlüssel für sein ganzes Handeln wurde. Die Kehrseite war, dass er Vater für alles die Schuld gab: für jeden zerstörten Traum, für jede Enttäuschung und vor allem dafür, mutterlos aufgewachsen zu sein. In seiner Vorstellung war unsere Mutter frei von jedem Makel, im Laufe der Jahre errichtete er eine Art Schrein für ihr Andenken, auf dem nur das Gute Platz fand, und natürlich hatte Vater niemals eine Chance gegen eine Tote. Irgendwann stand für ihn fest, dass Vater unsere Mutter in die Flucht getrieben haben musste. So unbegründet das auch war, für Rati war es einfacher, einen Schuldigen zu haben, auf den er, wenn etwas aus dem Ruder lief, mit dem Finger zeigen
Читать дальше