Rati war gereizt. Er wollte dieses Thema beenden, es wurde ohnehin unentwegt diskutiert, und dieses Mädchen war die Letzte, von der er nun auch noch eine Standpauke bekommen wollte.
Dina stopfte sich ein Stück Brot in den Mund, zuckte mit den Schultern und meinte vollkommen nonchalant, während sie laut kaute:
– Na, ich sag nur meine Meinung, du kannst ja weghören.
– Darauf kannst du wetten!
– Danach hört es sich aber nicht an. Guck mal, wie du dich aufregst. Und aufregen tut man sich nur dann, wenn jemand einem die Wahrheit sagt!
– Ist ja gut, beruhigt euch wieder und probiert die Frikadellen, sie sind gleich fertig.
Olikos Stimme verriet Unsicherheit. Auch ich wusste nicht, was ich von Dinas Provokation halten sollte. Wieso war es ihr auf einmal so wichtig, dass Rati weiterhin in die Schule ging?
– Ich verstehe echt nicht, was du für ein Problem hast, Mädchen.
Rati sah mich dabei vorwurfsvoll an.
– Ich will nur, dass du es zugibst. Und ich heiße übrigens Dina, kapiert?
– Was soll ich denn zugeben? Was ist mit der los, Keto?
Er warf mir einen zornigen Blick zu.
– Dass du Schiss hast, wiederholte Dina.
– Ich habe null Schiss. Wieso sollte ich Schiss haben, und wer hat dich nach deiner Meinung gefragt, Mädchen?
– Noch mal: Ich heiße Dina und ich brauche keine Erlaubnis, um meine Meinung zu sagen. Du hast einfach Schiss.
– Das ist albern. Sagt ihr, sie soll mich in Ruhe lassen!
Rati war überfordert. Dina war kein Kumpel, vor dem er den Überlegenen markieren konnte, Dina war auch nicht unser Vater, den er unverhohlen bekämpfen konnte, Dina war keine der Babudas, Dina war nicht seine Schwester, keine von denen, die er alle ignorieren konnte.
– Dann beweise es!
– Und wem, bitte? Dir etwa?
Rati sah sie herablassend an.
– Ja, meinetwegen.
– Und wieso sollte ich das tun?
Und dann kam von Dina dieser Satz, der mir im Hals stecken blieb, als hätte ich ihn ausgesprochen und mich an ihm verschluckt.
– Damit ich mit dir Rock ’n’ Roll tanze. Ich bin die beste Rock-’n’-Roll-Tänzerin der Welt. Du stehst doch auf Rock ’n’ Roll?
Im Hintergrund hörte ich Oliko kichern, ich hustete. Rati lachte laut auf.
– Sie ist verrückt, oder? Hey, Keto, deine Freundin ist verrückt!
Ich hatte ihr tatsächlich erzählt, dass Rati sehr gerne und ziemlich gut tanzte. Er hatte mich immer genötigt, zu »Jailhouse Rock« von Elvis Presley die Hüften zu schwingen. Er wirbelte mich herum und ging in der Musik vollkommen auf, wurde frei und gelöst, wie man es selten bei ihm erlebte.
– Vielleicht will ich gar nicht mit dir tanzen, schon mal über die Option nachgedacht?, konterte Rati selbstgefällig und vertiefte sich wieder in sein Essen, aber aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, wie sehr diese entwaffnende Art Eindruck auf ihn gemacht hatte.
– Das wirst du schon wollen, wenn du mich erst tanzen siehst.
Schon wieder kicherte Oliko im Hintergrund.
– Du tanzt Rock ’n’ Roll?
– Ja, das tue ich.
– Wirklich so gut, wie du behauptest?
– Ich bin die Beste. Willst du sehen?
– Na los, bitte.
– Aber das mache ich nicht umsonst.
– Was willst du dafür haben?
– Du wirst mich zu deinem Abschlussball mitnehmen und dort mit mir tanzen.
– Was will sie von mir, kann mir das einer erklären?
Rati verdrehte die Augen.
– Willst du mich nun tanzen sehen oder nicht?, insistierte Dina.
– Also gut, gut. Keto, los, hol’ den Elvis und schmeiß den Plattenspieler an!
Rati schüttelte den Kopf, aber sowohl Oliko als auch ich spürten die Leichtigkeit, die ihn auf einmal ergriffen hatte, die Lust an der Herausforderung, etwas in ihm war in Bewegung geraten.
Ich rannte in Vaters Zimmer und suchte die Schallplatte raus, schaltete den Plattenspieler ein, riss die Tür auf, damit wir die Musik in voller Lautstärke hören konnten, und wartete auf die Show, die Dina uns versprochen hatte. Ich wusste nichts von Dinas Rock-’n’-Roll-Begeisterung, aber Babuda zwei und ich befanden uns in Aufruhr, denn wir ahnten, dass Dina kurz davor war, einen kolossalen Sieg zu erringen, der für unsere gesamte Familie von größter Bedeutung sein könnte, und wir fieberten dem spannenden Zweikampf entgegen. Dina rückte den Stuhl nach hinten, sprang auf und streckte meinem Bruder die Hand entgegen:
– Ich soll also mit dir tanzen, ja?
Er sah sie ungläubig an.
– Ja klar, denn allein Rock ’n’ Roll zu tanzen wäre ja auch völlig bescheuert!, rief sie ihm lachend ins Gesicht. Und Rati ergab sich, mein unzähmbarer, widerspenstiger Bruder beugte sich ihrem Willen. Jetzt sprang auch er auf und zog sie an der Hand hinter sich her ins Wohnzimmer. Oliko und ich folgten ihnen, und wir wurden Zeugen eines Schauspiels, das so viel mehr war als ein bloßer Tanz: Es war der Moment, in dem ich mich in das Zusammensein dieser zwei Menschen verliebte, auch wenn ich nicht sagen konnte, wie ich dieses Gefühl einordnen sollte und was ich von Dinas so schlagartig entfachtem Interesse für Rati zu halten hatte. Ich sehe sie ineinanderfließen, sehe sie schwerelos werden. Sehe ihn, wie er sie hin und her wirbelt, sehe sie zwischen seine Beine gleiten, wie er sie wieder hochzieht – wie perfekt sie miteinander harmonieren, wie gut ihre Körper aufeinander abgestimmt sind, als hätten sie monatelang für ein Tanzturnier geübt. Ich wundere mich, woher sie all das kann, sehe Ratis Verwandlung vor mir. Wie mein störrischer Bruder, dieser draufgängerische Rowdy, zu einem durchlässigen, weichen, versöhnlichen Wesen wird, das glücklich ist, dass ihm etwas so gut gelingt.
Als das leise Kratzen der Nadel am Ende der Platte sie aus ihrer Ekstase weckte und ins schummrige Licht des Wohnzimmers zurückbeförderte, blieben zwei Schlafwandler zurück, die sich zu wundern schienen, wie sie an diesen Ort gelangt waren. Rati war seine Selbstvergessenheit merklich unangenehm, er verzog sich sofort in sein Zimmer, und Oliko räusperte sich, als wäre gerade etwas Unanständiges passiert, und forderte Dina auf, ihr Unterrichtsmaterial zu holen. Ich stand da und wusste nicht, wohin mit mir. Ich spürte den salzigen Geschmack der Tränen in meinem Mund und begriff nicht, was mich zum Weinen gebracht hatte. Vielleicht betrauerte ich bereits einen Verlust, den ich noch nicht in Worte fassen konnte, wobei nicht einmal klar war, ob dieser Verlust Rati oder Dina betraf oder gar die beiden. Ich taumelte zurück in die Loggia, froh darüber, dass Oliko sich mit Dina zurückgezogen hatte und ich Luft holen konnte, bevor ich meine Freundin mit Fragen überhäufen würde, vor deren Antworten ich mich fürchtete.
Ohne es jemals zu kommentieren, schleppte Rati sich fortan wieder in die Schule, und wir bedrängten sowohl Vater als auch Babuda eins, das unkommentiert zu lassen. Zu seinem Abschlussfest im Sommerhaus eines Freundes in Zqneti nahm er Dina mit und tanzte mit ihr zwei Stunden lang ohne Unterbrechung Rock ’n’ Roll. Als sie von der Feier zurückkehrten, ließ er sich angetrunken und mit glühenden Wangen in einen Sessel fallen und zog mich zu sich hinunter, um mich an seine Brust zu drücken und meine Haare durcheinanderzuwuscheln. Er hielt mich umarmt, und ich roch seine Veränderung: Sie roch lieblich, nach Rotwein, nach Müßiggang. Er roch wie jemand, der verliebt ist. Verliebt mit der Verliebtheit eines Achtzehnjährigen, unnachahmlich, mit der Wucht einer Lawine und zugleich mit der Leichtigkeit eines Schmetterlingsflügelschlags. Und aus irgendeinem Grund stiegen mir erneut Tränen in die Augen. Diesmal gab ich mir keine Mühe mehr, sie zu verbergen, und fiel ihm schluchzend um den Hals. Er tätschelte meine Wangen, küsste meine Stirn und kniff mich in die Nase. Ich aber weinte wegen der merkwürdigen Ahnung, die mich plötzlich überkam. Wegen des schweren Gefühls, für das ich keine Worte besaß. Ich weinte wegen des großen Feuers, das sie gemeinsam entzünden würden und das mich genauso anzog, wie es mich in die Flucht trieb.
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