Während Manana jeglichen Konflikt mit ihrem jüngeren Sohn vermied und Guga sich vor seinem Bruder fürchtete, zog Nene nicht selten gegen Zotne in den Krieg. Sie stritten sich bis aufs Blut, wie zwei Tiere, die vor Rage nichts und niemanden mehr um sich herum wahrnahmen. Ich habe über die Kraft der kleinen, auf den ersten Blick so harmlos wirkenden Nene nicht selten gestaunt. Heute weiß ich es besser. Niemals hätte man eine solche Wucht, eine solche Raserei hinter diesem Unschuldsgesicht vermutet, so viel geballte Energie und so viel Wut in diesem zierlichen Körper erahnt, so viel Entschiedenheit. Aber Nenes Tobsuchtsanfälle wechselten sich mit Resignation ab, die uns nicht minder ängstigte. Nicht selten hörten wir von Nene Sätze wie »Das hat doch keinen Sinn« – »Ich kann sowieso nichts machen« – »Das wird sich niemals ändern«. Die Art, wie sie diese Sätze aussprach, machte uns alle betroffen, am meisten aber sorgte sich Ira; Ira, die ab dem Tag, an dem sie sich Nenes Zuneigung sicher war, nicht anders konnte, als sie anzuhimmeln.
Anfangs amüsierte sich Nene über Iras übermäßige Fürsorge, mit den Jahren wurde sie zu einer Notwendigkeit und einer Bürde zugleich. Ira, so paradox es auch erscheinen mag, die Rationalste und Bedachteste von uns allen, konnte nicht anders, als zu glauben, dass man Nene vor sich selbst und ihrer Familie schützen müsse, und sie übersah dabei, wie sehr Nene allen Widersprüchen und Problemen zum Trotz zu sehr Teil ihrer Familie war, als dass sie sich hätte von ihr abnabeln können. Nene aber war dieser Zwiespalt. Und so ist es bis heute geblieben, davon bin ich überzeugt. In diesem Widerspruch findet ihr Leben statt. Schon immer überschritt sie den einen Tag Grenzen, um am nächsten Tag wieder freiwillig in den goldenen Käfig ihres für sie vorgesehenen Lebens zurückzukehren. Das begriff ich, das begriff Dina, nur Ira war bis zuletzt unfähig, das zu akzeptieren, und wehrte sich, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Ob sie sich dieser Erkenntnis auch jetzt, wo sie Nene gegenübersteht und umgeben ist von all den Schwarzweißbildern, immer noch verweigert? Ich hoffe, sie hat gelernt, mit diesem Widerspruch zu leben.
Schon in der Grundschule freundeten Nene und ich uns an. Zunächst war es eine flüchtige, eher beiläufige Freundschaft, die auf keinerlei Verbindlichkeiten beruhte. Wir suchten die Nähe der anderen, da wir uns grundlos, wie damals auf der Hochzeit unter dem Tisch, auf Anhieb sympathisch waren, aber wir erwarteten nichts voneinander. Wir luden uns gegenseitig zum Geburtstag ein, bei Klassenfahrten saßen wir im Bus oft Seite an Seite und kicherten, in den Pausen alberten wir herum, verabredeten uns aber nicht außerhalb der Schule. Die meisten Eltern warnten ihre Kinder davor, den Koridse-Kindern zu nahe zu kommen, sie alle fürchteten die Unberechenbarkeit dieser Nähe. Ich weiß nicht mehr, wie lange Dina, Ira und ich bereits unzertrennlich waren, als Nene auf uns zukam und etwas sehr Merkwürdiges fragte:
– Könnt ihr mir bei einer Sache helfen?
Sie hatte sich direkt an Dina gewandt, als hätte sie gewusst, dass sie diejenige war, die man von uns dreien als Erste überzeugen müsste.
– Klar, schieß los!, antwortete Dina und blies ihr eine rosa Kaugummiblase ihrer Lieblingsmarke »Donaldo« ins Gesicht. (Der Geruch steigt mir sofort in die Nase, dieser künstliche, süße Geruch …)
– Wir müssen meinen Bruder ablenken, damit meine Mutter eine Freundin treffen kann, sagte Nene dann.
Ira zog die Augenbrauen hoch, wie immer, wenn sie etwas hörte, was ihre berühmte Skepsis wachrief. Dina sah Nene einen Augenblick ungläubig an, dann warf sie den Kopf in den Nacken, lachte auf ihre tiefe, kratzige Art und rief begeistert aus:
– Klar, machen wir, was ist der Plan?
Der Plan bestand darin, Zotne aus der Wohnung zu locken, damit Nenes Mutter sich ungestört mit einer ihrer bei Tapora in Ungnade gefallenen Freundinnen treffen konnte. Nene schlug vor, wir sollten zu zweit zu ihr nach Hause gehen und Zotne bitten, rasch mitzukommen, da Nene hingefallen sei und man sie stützen müsse. Derweil könnte Manana ungesehen das Haus verlassen und sich mit ihrer Freundin treffen, ohne von ihrem Sohn ausspioniert zu werden.
– Wieso muss sich deine Mutter denn vor deinem Bruder verstecken?
Ira stellte die Frage, die uns allen auf der Zunge brannte. Es wollte keiner von uns einleuchten, warum eine erwachsene Frau irgendwelche Verbote von ihrem pubertären Sohn auferlegt bekam. Ira trottete uns zwar hinterher, aber man merkte ihr an, dass sie die Idee überhaupt nicht billigte.
Ich erinnere mich noch an die verblüfften Gesichter meiner beiden Freundinnen, als uns Zotne die Tür öffnete. Der große holzgetäfelte Flur, der endlose Korridor, der sich unseren Blicken öffnete, die fünf Meter hohe Decke, all das versetzte Ira und Dina in Staunen. Ich kannte die Wohnung bereits von Nenes Geburtstagsfeiern, aber auch ich war jedes Mal beeindruckt, wenn ich sie betrat. Niemand von uns hatte solche Wohnverhältnisse.
Jahre später, als die Dämme brachen, als die Lichter erloschen, als Menschen und Hunde wie an Tollwut erkrankt zornig und nach Beute suchend durch die Straßen zogen und gelernt hatten, die Schüsse zu überhören, da sagte Dina zu Ira und mir, wie makaber es doch sei, dass ausgerechnet diese schier endlosen Zimmer und Flure, diese kolossalen Räume, vollgestellt mit so viel Luxus, das größte Gefängnis darstellten. Und weder Ira noch ich konnte etwas erwidern, und wir versanken stattdessen in ein von Grübeln über allerlei Nöten und Entbehrungen geplagtes Schweigen, das einsam machte, weil die Nöte und Entbehrungen, sosehr sie sich auch ähnelten, jede Einzelne von uns so unterschiedlich beanspruchten.
Damals aber stand der drahtige Zotne selbstbewusst vor uns, mit rasiertem Kopf und der markanten Narbe, mit einem Stück Brot in der Hand und vollem Mund und sah uns verdutzt an.
– Was gibt’s?, fragte er und warf einen verächtlichen Blick auf Dina, die sofort vorpreschte:
– Deine Schwester ist hingefallen, du musst sie von der Schule abholen, sie humpelt, erklärte Dina und versuchte, ihren Worten Nachdruck zu verleihen, indem sie finster guckte.
– Was hat sie denn angestellt, die blöde Kuh?
– Hingefallen ist sie, hast du was mit den Ohren?
Das war Iras Stimme aus dem Hintergrund, und ich wunderte mich über ihre Entschiedenheit. Ira, die ihr Leben lang nur Zuschauerin gewesen war, schritt auf einmal zur Tat, und diesmal war ich mir sicher, dass es nichts mit Dina zu tun hatte. Irgendwas hatte Nene in ihr ausgelöst, irgendeine zärtliche Fürsorge, irgendein unterdrückter Instinkt war in ihr erwacht, und ich war mir nicht sicher, wie dieses Zeichen zu deuten war.
– Du solltest wissen, wie man mit einem Erwachsenen redet!, fuhr Zotne sie an, und wir wunderten uns, mit welcher absurden Selbstverständlichkeit er sich für erwachsen hielt. Und ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, brüllte er durch den ganzen Flur: – Guga, komm sofort her, du musst Nene von der Schule abholen!
Er verschwand, die Tür offen stehen lassend. Diese Möglichkeit hatten wir nicht bedacht. Ich spürte Panik in mir aufsteigen, Ira zuckte zusammen, und Dina sah uns beide erschrocken an.
– Was machen wir jetzt? Oh Mann, das hätte Nene doch wissen müssen, dass dieser Idiot seinen Bruder vorschickt, flüsterte ich. Wir durften die neu gewonnene Freundin nicht enttäuschen, nicht gleich bei der ersten großen Aufgabe, mit der sie uns betraut hatte.
Plötzlich tauchte der stämmige Guga in der Tür auf. Er sah so anders aus als sein kleiner Bruder, trotz der unbestechlichen blauen Koridse-Augen, deren Strahlkraft man kaum aushielt. Doch dort war kein Fünkchen Groll, nur vollkommene Offenheit, als könnte er die Welt nicht anschauen, sondern als fiele sie in ihn hinein. Er sah sich verwirrt um und lief rot an, als er uns sah.
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