Ich höre ihr schon lange nicht mehr zu, stelle mir stattdessen Dina vor. Was würde sie denken, wenn sie heute hier wäre und sich all das dithyrambische Gerede über ihre Kunst und ihr Können anhören müsste, wie würde sie diese Lobeshymnen aufnehmen, würde sie unterscheiden können, wer sie wirklich feiert und wer sich bloß in ihrem Licht sonnt? Würde sie mich irgendwann kichernd wegzerren, sich ein Glas greifen und mit mir darauf trinken, dass all das nicht das ist, worauf es im Leben ankommt, denn das, was wirklich zählt, hätten wir ja schon längst gefunden?
Ira zupft an meinem Ärmel. Ich öffne die Augen, starre wieder zum Podest. Jetzt versuchen die Kuratoren, »die Magie« der Werke unserer toten Freundin zu erkunden, Worte für das zu finden, was keiner Worte bedarf. Sie erklären die Zusammenstellung, das breite Spektrum, das die Retrospektive abdeckt, die Vorgehensweise bei ihrer Auswahl, die chronologische Hängung, die sich an Dinas Leben und ihrem Werdegang orientiert. Das Persönliche in ihrem Werk, immer wieder fällt das Wort »radikal«, immer wieder spricht der Brite von der »Schonungslosigkeit, sich selbst und dem Betrachter gegenüber«, er erläutert auch ihre Eigenart, die Fotos mit – auf den ersten Blick – unverständlichen Titeln zu versehen, und welch tiefer Sinn hinter diesen Titeln in Wahrheit stecke. Sie bedanken sich abwechselnd bei dem weltweit gefeierten Kulturzentrum, bei der Gastgeberstadt, sie bedanken sich bei diversen Sponsoren, der Botschaft, die georgischen Strippenzieher sollen sich bloß nicht benachteiligt fühlen, das kleine Land darf hier nicht unterrepräsentiert sein, schließlich haben all diese Ausstellungsstücke in der einen oder anderen Form etwas mit diesem Land zu tun. Dann stellt der Museumsdirektor aus Rotterdam ein paar kunsthistorische Thesen auf, zwei Foucault-Zitate dürfen nicht fehlen, dann folgt irgendein Zitat von Helmut Newton. Thea, die georgische Kunstwissenschaftlerin in dem schwarzen Overall und den salatgrünen Pumps, darf eine kurze Einführung in die georgische Geschichte der letzten hundert Jahre zum Besten geben, wobei die Perestroika- und die Postperestroika-Zeit den Schwerpunkt ihres Vortrags bilden, denn diese Zeit sei der Rahmen des Œuvres und den Zuhörern solle es schließlich nicht an wichtigen Informationen und aufschlussreichen Eckdaten mangeln.
Wir, die Kinder dieser Zeit, lassen diese etwas trocken dargebotenen Abhandlungen über uns ergehen, als hätten die Begriffe wie »Unabhängigkeitskämpfe«, »Bürgerkrieg«, »niedergeschlagene Demonstrationen«, »Wirtschaftskrise« nichts mit uns zu tun, als würden wir diese Begriffe nur vom Hörensagen kennen, als hätten sie unser Leben nicht einmal gestreift. Der Botschafter, ein untersetzter Mann mit einer dichten Haarpracht, spricht auswendig gelernte Danksagungen, räuspert sich mehrfach und lädt anschließend zu einer Feier im Garten ein.
Dann darf auch Anano ein paar Worte sagen, aus irgendeinem Grund applaudieren ihr einige treue Gefolgsleute, kaum dass sie die Bühne betritt, und sie lächelt verlegen. Sie läuft rot an und braucht vor Aufregung eine Weile, um in ihrem charmanten, georgisch gefärbten Englisch von ihrer Schwester zu erzählen. Ira und ich hängen sofort an ihren Lippen. Ihre Rührung ist so herzzerreißend aufrichtig, und auch wenn sie längst eine Frau ist, die auf ihre zweite Lebenshälfte zugeht, für uns bleibt sie das Mädchen, das ständig um unsere Aufmerksamkeit buhlt, die ewig Kleine, die ewig Junge, die eine ungemeine Leichtigkeit umgibt. Dass ausgerechnet Nene sie hier im Stich lässt, wo sie Anano doch von uns allen am meisten bewundert und gemocht hat, erscheint mir in diesem Augenblick unverzeihlich.
Sie spricht von dem gnadenlosen Talent, mit dem ihre Schwester gesegnet war und das sich zugleich als Fluch herausstellen sollte, diese Obsession hinzusehen, so lange, so genau, bis man sich selbst auflöst und mit dem Objekt vor der Kamera verschmilzt. Sie spricht von ihrem ewigen Seiltanz in diesem Leben, das ihr alles abverlangt habe, gespannt zwischen dem Müssen und dem Wollen, und wie teuer ihre Schwester für die eigene Kompromisslosigkeit bezahlt habe. Anano versucht, den Besuchern nicht zu viel zuzumuten, es sind wohldosierte Informationen, eine Anekdote hier, eine Anekdote da. Das Schwere, das Unsagbare wird sie ganz den Bildern ihrer Schwester überlassen. Ganz unerwartet wendet sie sich plötzlich persönlich an uns, stellt uns als »Dinas Inspiration und ihren Halt« vor, alle Köpfe drehen sich zu uns um, suchen uns in der Menge. Ira lässt es sich gefallen, lächelt, lässt das Getuschel über sich ergehen. Ich dagegen könnte Anano umbringen, spätestens jetzt hat sie uns offiziell zu Exponaten erklärt, und ich kann davon ausgehen, dass wir nicht weniger begutachtet werden als die Bilder an den Wänden. Sie bedankt sich bei uns, sie bedankt sich für unser Kommen und betont, dass wir die Anreise nicht gescheut hätten, Ira aus Amerika und ich aus Deutschland, und spricht von Nene, als wäre sie unter uns – sie komme direkt aus Tbilissi –, und fügt hinzu: »Euer Hiersein bedeutet mir sehr viel, das wisst ihr hoffentlich.« Sie animiert die Anwesenden, im Anschluss im Garten »ausgiebig zu feiern, so wie es Dina gefallen hätte«, wünscht allen »viel Freude« und verlässt das Podest.
Es wird geklatscht, und unter dem aufbrandenden Applaus, in diesem Moment, erblicke ich sie. Ira hat sie noch nicht entdeckt, und ich bin froh, diesen Moment nicht mit ihr teilen zu müssen, so amüsiert bin ich, amüsiert und erleichtert, und ich will die Erste sein, die Ira diese späte Überraschung überbringt. Natürlich, ich hätte es mir denken können: Nene kommt zu spät, sie kommt immer zu spät, warum sollte es diesmal anders sein?
Ich bin auf einmal so gerührt, dass ich größte Mühe habe, nicht loszustürmen und sie hochzuheben, diesen Paradiesvogel, diese unübersehbare Erscheinung, diese weiche, zierliche Gestalt mit dem stark geschminkten Puppengesicht, dieses so trügerische Äußere – denn nicht einmal annähernd lässt sich erahnen, welch eine Urgewalt in dieser extravaganten kleinen Person steckt. Sie trägt ein ausgefallenes knallgelbes Wickelkleid, bestickt mit schwarzen Schwalben, sie präsentiert großzügig ihr imposantes Dekolleté, steckt in halsbrecherischen High Heels, betritt anmutig und zugleich gehetzt den Raum, als gehörte der ganze Palast allein ihr. Sie hält Ausschau, sie sucht ganz offensichtlich nach einem bekannten Gesicht, vielleicht sucht sie uns, ich will es glauben, sie taucht in diesen ohrenbetäubenden Applaus ein, als gälte er ihr, sie hatte schon immer ein gutes Händchen für Timing.
Ich versetze Ira einen leichten Stoß in die Seite und deute mit dem Kopf in Nenes Richtung. Ich sehe die Faust, die sich schlagartig um ihr Herz ballt, immer fester, immer heftiger. Sie presst ihre Lippen aufeinander, will nicht weinen, sie kann nicht weinen, Tränen sind etwas für kurzzeitige Erleichterung, aber die Erleichterung, die sie braucht, ist die eines ganzen Jahrhunderts, eines ganzen Lebens. Sie braucht eine Begnadigung, eine Befreiung, auf die sie seit über zwanzig Jahren wartet, und die Macht über diese Befreiung besitzt nur ein Mensch auf diesem Planeten, und dieser Mensch hat gerade den Raum betreten, in einem stechend gelben Kleid, und etliche Köpfe drehen sich zu ihm um. Jetzt bin ich die, die Ira stützt, ich bilde mir ein, ihr Herz klopfen zu hören, und schon ist sie ganz verschwunden, diese selbstsichere Senior-Partnerin aus Chicago mit ihrem stählernen Bizeps und ihren Designeranzügen. Stattdessen steht wieder die kleine Ira vor mir, das sich ewig sehnende Mädchen mit seinem pochenden und doch unsichtbaren Verlangen. Sie sieht uns. Und sie winkt, bevor sie ihr zartes und kokettes Lächeln lächelt und für den Bruchteil einer Sekunde ist alles wieder gut, alles wieder heil.
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