sollte.
War es Nene oder mein Bruder, wer hatte mir von diesem Kislowodsker Treffen erzählt? 1979 soll im fernen Kurort Kislowodsk ein geheimes Treffen von allen namhaften Dieben und den Tschechowiks stattgefunden haben, bei dem die Diebe den korrupten Tschechowiks verordneten, zehn Prozent ihres Einkommens an sie abzuführen, als Gegenleistung erhielten sie garantierten Schutz. Bestimmt war es Nene, für sie war es schließlich normal, über derlei zu sprechen. Sie sprach von »Schodka« genauso selbstverständlich wie vom »Hurenkrieg« oder »Messerkuss«.
Je mehr der Staat an Respekt und Ansehen verlor, je deutlicher die Bürger Lügner, Ausbeuter und Manipulatoren für den Vater Staat am Werk sahen, je offensichtlicher die Ideologie zur Farce mutierte, und vor allem je mehr die Bürger die beständigste Bindung an den Staat verloren, nämlich die Angst, desto unaufhaltsamer rückte das »Diebesgesetz« in die gesellschaftliche Mitte. Sogar meine Großmütter hielten Menschen, die mit der Miliz zusammenarbeiteten, für »Ratten«.
Ich höre meinen Bruder durch die Zeiten toben. Höre ihn erbittert Argumente gegen meinen Vater aufbringen, höre die beiden sich streiten, nein, sie werden ihre Weltsichten niemals miteinander in Einklang bringen, ihre Werte werden sie niemals teilen können, und sie werden niemals aufhören, sich darüber zu empören.
– Im Gegensatz zu deinen Scheißpolitikern halten sie ihr Wort. Sie sind echte Männer, die keine leeren Versprechungen machen. Sie nehmen denjenigen etwas weg, die uns eh alle bestehlen, und teilen es fair auf. Sie lassen ihre Gemeinschaft nicht im Stich, wie es deine beschissene Obrigkeit tut! Für sie hat der Begriff der Ehre immer noch eine Bedeutung!, höre ich Rati meinen Vater anfahren. – Denn dein beschissener Staat, und das weißt du selbst, Papa, ist der größte Dieb von allen!
Nene wollte ihre ganze Kindheit lang ein Mädchen mit Rüschchen, Lackschuhen und flatternden Kleidern sein, mit funkelndem Schmuck und Nagellack, geliebt werden und gehätschelt. Sie lebte in einer dermaßen hermetischen Männerwelt, dass sie dem unbedingt etwas entgegensetzen wollte, etwas, das diesen Männern nicht zugänglich war. Von Nenes zu früh verstorbenem Vater habe ich mir nie ein richtiges Bild machen können. War er nun ein überzeugter Krimineller gewesen, oder stand er nur im Schatten seines übermächtigen Bruders? Offiziell hatte er in einer Tabakfabrik gearbeitet, inoffiziell führte er gewisse Aufträge seines omnipräsenten Bruders aus, der damals noch eine seiner unzähligen Haftstrafen absaß, aber vom Gefängnis aus schaltete und waltete. Und so oblag es Nenes Vater, geheime Botschaften zu überbringen, Geld bei Schuldnern einzutreiben, das Machtwort seines Bruders in diversen Konflikten und Streitigkeiten auszusprechen. Wir wussten, dass er Opfer eines dummen Konflikts zwischen zwei Handlangern von Tapora geworden war. Der junge Mann, der das grenzenlose Vertrauen zu seinem älteren Bruder mit seinem Leben bezahlte, hinterließ zwei Söhne im Alter von sechs und drei und eine schwangere Frau.
Tapora kam erst zwei Jahre nach diesem Ereignis frei, aber man erzählte sich, dass er den Mörder noch vom Knast aus brutal erledigen ließ: nackt und mit neun Stichen im Leib wurde er in einem Wald gefunden. Tapora kam frei und blieb. Ich weiß nicht, ob er es tat, weil er sich der Witwe und den Kindern seines Bruders gegenüber schuldig fühlte oder weil er durch den Tod seines Bruders in den Besitz einer Ersatzfamilie kam, wo ihm eine eigene schon wegen seiner Stellung verwehrt war. Er wurde zum inoffiziellen Familienvater der Koridses. Um diese Familie rankten sich schon immer Legenden, von denen eine besagte, dass Tapora bereits in Jugendjahren in Manana verliebt gewesen sei und dem Tod seines Bruders somit auch große Vorteile hatte abtrotzen können. Bis heute habe ich keine Antwort darauf, ob Manana sich ihrem Schicksal einfach ergeben hat oder ob sie dieses Leben tatsächlich für das richtige hielt und sich bereitwillig in die Obhut ihres umtriebigen Schwagers begab. Immer wenn ich an Manana denke, sehe ich diese große, schwerfällige, vollständig in Schwarz gekleidete Frau, die selten lachte, eher trübsinnig, meist bedrückt war und unter starken Migräneanfällen litt, die sie manchmal für mehrere Tage zur stummen Isolation in völliger Dunkelheit verdammten. Sie war bis aufs Mark konservativ und lehnte jede Abweichung von der Norm vehement ab. Ihre Gesichtszüge verrieten immer eine gewisse Müdigkeit, aber hinter dieser Maske verbarg sich etwas anderes, eine erschreckende Resignation. Ich hätte sie gerne als junges Mädchen gesehen, bevor das Leben sie mit den Koridse-Brüdern zusammengeführt hatte. Doch dank dieser unberechenbaren Titanen führte sie ein finanziell sorgenfreies Leben in einer großzügigen Wohnung und wusste, ihre Kinder würden niemals Not leiden und alles bekommen, was sie brauchten – mit einer Ausnahme: die Freiheit, das Leben zu leben, das sie leben wollten.
Ihre für sowjetische Verhältnisse palastähnliche Fünfzimmerwohnung in der Dzierżyński-Straße verfügte ironischerweise über einen Ausblick auf das ZK-Gebäude und einen abgeriegelten, wuchernden Garten, Manana konnte tschechoslowakische Kristallvasen und französisches Porzellan ebenso sammeln wie Goldschmuck aus dem Petersburg der Zarenzeit, Pelzmäntel aus dem Moskauer Kaufhaus GUM und Schuhe aus Italien. Sie erhielt tägliche Lieferungen von frischen Nahrungsmitteln vom Land, damit sie niemals ihren Fuß auf den Basar oder in einen mickrigen Gastronom setzen musste. Und wenn sie mit ihrer Familie Urlaub machte, dann keineswegs an der georgischen Schwarzmeerküste, sondern an den goldenen Stränden Bulgariens oder an der Ostsee in Estland. Aber der Preis für all diese materiellen Güter und Privilegien war die Aufgabe jeder Form von Selbstbestimmung.
Guga, der ältere der beiden Brüder, war zu einem ängstlichen, schreckhaften Jungen herangewachsen. Trotz seiner Größe und der breiten Schultern war er ein eher langsamer Zeitgenosse, der gern aß und Fußball guckte. Er musste männlich sein, dominant, kämpferisch, er musste dauernd die ominöse Familienehre verteidigen und das Wort seines Onkels achten und befolgen. Als er sich mit fünfzehn Jahren weigerte, seine Unschuld bei einer Prostituierten zu verlieren, weil er seit geraumer Zeit unsterblich in Anna Tatischwili verliebt war, drohte ihm sein Onkel mit einer Tracht Prügel, falls er sein »schwules Verhalten« nicht umgehend seinlasse, und erntete obendrauf auch die Verhöhnung seines Bruders, der bereits mit zwölf von seinem Onkel »zum Manne« gemacht worden war.
Während Guga sich also in Zurückhaltung übte und Nene die liebevolle Tochter gab, die immer handzahm war und großer Wärme und enormen Zuspruchs bedurfte, die unentwegt versuchte, ihren zornigen Onkel zu besänftigen, war der drei Jahre jüngere Zotne aus ganz anderem Holz geschnitzt. Er war sehr schlank, etwas kleiner geraten als sein älterer Bruder, sein Gesicht wirkte schon in jungen Jahren erwachsen, und anders als seine beiden Geschwister hatte er nichts Verträumtes an sich. Nie habe ich in ihm den attraktiven Mann sehen können, wegen dem alle möglichen Mädchen des Viertels reihenweise in Ohnmacht fielen. Seine durch eine Narbe zweigeteilte Augenbraue, seine meerblauen Augen (nur die Augenfarbe hatten alle Koridse-Geschwister gemeinsam), sein kahlrasierter Kopf und seine nervöse, fahrige Art ließen mich schon als Kind auf Distanz gehen. Mit sieben fluchte er bereits wie sein Onkel und mit zwölf erpresste er andere Jungs aus der Parallelklasse und kassierte Geld von ihnen ein. Er galt als kaltblütig und furchtlos – die besten Voraussetzungen, um in die Fußstapfen seines Onkels zu treten. Seiner Mutter war die Freundschaft mit bestimmten Frauen untersagt, Frauen, deren Männer in den staatlichen Institutionen arbeiteten. Nur in den Phasen, in denen Tapora abwesend war, konnte Manana ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen. Dies währte jedoch nur so lange, bis Zotne anfing, Tapora regelmäßig Bericht zu erstatten, und Mananas Gefängnis noch enger und trister wurde.
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