In jeder ruhigen Minute wie dieser verlor er den Kampf.
Die Flamme berührte den Tabak und das Zigarettenblättchen. Würziges Aroma stieg auf. O’Connell nahm einen Zug und blies das Streichholz aus, ehe seine Fingerkuppen Brandblasen warfen. Er stieß den Rauch aus, schnippte das heruntergebrannte Streichholz in den Aschenbecher auf seinem Tisch und stützte sein Kinn in die freie Hand. Er sah auf den Bildschirm vor sich und klickte sich durch ein paar Google-Seiten im Internet. Eigentlich wäre er heute gar nicht im Büro gewesen, sondern würde jetzt in einem Flieger nach Hongkong sitzen, um an einer Übergabe von Dokumenten teilzunehmen. Das Treffen war in letzter Minute abgesagt worden. Der Flug wurde storniert und O’Connells Gepäck befand sich noch auf dem Weg vom Flughafen zu seiner Wohnung in London. So etwas passierte hin und wieder. Doch dann gab es unerträgliche Leerläufe, die in Langeweile gipfelten. Er überlegte, ob er einige Berichte aufarbeiten sollte, befand jedoch, dass er nach der Zigarette für den Rest des Tages freinehmen würde, um sich zu Hause auf der Couch zu entspannen. Den tausendseitigen Neal-Stephenson-Wälzer Reamde hatte er zum Glück im Handgepäck. Er würde ein paar Kapitel lesen, Scotch dabei schlürfen und am Abend eine Blu-Ray einwerfen. Irgendwie ließ sich ein geplatzter Auftrag schon kompensieren. Zumindest heute. Morgen sah die Welt ganz anders aus.
O’Connell wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als die Tür aufflog und Noah Zabot seinen wirren Blondschopf durch den Rahmen streckte.
»Ah, du bist noch da.«
»Ich hau auch nicht ab.«
Zabot trat ein, hielt aber die Türklinke fest, als wolle er jeden Moment wieder gehen. »Hongkong?«
O’Connell schüttelte den Kopf.
»Autsch! Na, hast du dir schon einen Alternativplan überlegt?«
»Ich geh mit Stephenson auf die Couch.« O’Connell nahm einen weiteren Zug aus der Zigarette und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück.
»Ist Stephenson dein Hund oder deine Flamme?«
Statt zu antworten, beugte sich O’Connell vor, griff in seine Reisetasche und zog den Schmöker hervor. Er knallte das Buch auf den Tisch.
»Verstehe.« Zabot grinste. »Falls du nichts Besseres zu tun haben solltest, als deine Nase in einen Science-Fiction-Roman zu stecken, könntest du dich der Realität widmen. Da hat jemand für dich angerufen.«
O’Connell runzelte die Stirn, als der Kollege nicht weitersprach. »Und? Verrätst du auch, wer, oder muss ich dafür einen Vokal kaufen?«
»Eine Frau. Sie kam über die Rufumleitung deiner alten Scotland-Yard-Nummer.«
Scotland Yard. Es war schon drei Jahre her, dass er beim Metropolitan Police Service London als Detective Inspector gearbeitet hatte. Danach gab er ein Gastspiel bei der Royal Navy, als er während des Afghanistan-Konflikts als Reservist einberufen und abkommandiert wurde. Sein Vorgesetzter bei der Polizei war alles andere als begeistert, doch die Navy brauchte einige Soldaten, die in verdeckten Operationen ausgebildet waren. O’Connell begrüßte die Abwechslung zunächst. Sein Wechsel zum britischen Auslandsnachrichtendienst, der Military Intelligence, Sektion 6 – kurz MI6 –, war abrupt gekommen. Dabei half ihm seine militärische Laufbahn und ein heldenhafter Einsatz in Afghanistan, bei dem er eine Gruppe Zivilisten vor einem Anschlag der Taliban rettete. Die Rekrutierungsoffiziere des Secret Service arbeiteten schnell und zuverlässig. Sie warben ihn von New Scotland Yard direkt nach Vauxhall Cross ab, beförderten ihn vom Sub-Lieutenant der Royal Navy zum Lieutenant im Feldeinsatz Ihrer Majestät.
Es gab zwei, drei Übergabeszenarien und Infiltrationsaufträge, doch die meiste Zeit saß Liam O’Connell tatsächlich am Schreibtisch und wertete Satellitenaufnahmen, Telefonmitschnitte und E-Mails aus, besprach sich mit anderen Sicherheitsbehörden und fand das Geheimagentenleben alles andere als spannend. Bei der Kriminalpolizei war zumindest etwas los gewesen.
»Du sagst deinen Frauen immer noch, dass du bei der Polizei beschäftigt bist?«, stichelte Zabot mit breitem Grinsen, das O’Connell dem anderen am liebsten aus dem Gesicht geschlagen hätte.
Noah Zabot war sein Verbindungsoffizier während der Auslandseinsätze gewesen. Er war kein gebürtiger Brite. Sein Vater stammte aus Algerien, die Mutter aus Frankreich. Die Großeltern mütterlicherseits kamen allerdings aus London. Zabot lebte nach eigenen Angaben seit über fünfzehn Jahren wieder in England, hatte die britische Staatsbürgerschaft erworben und war nach seiner Militärzeit zunächst zum MI5, dem Inlandsnachrichtendienst, und später dann zum MI6 gekommen. Trotz O’Connells Bemühungen, mehr über Zabots Privatleben bei einem Bier nach Feierabend zu erfahren, blockte der Kollege stets ab. Dabei war er selbst äußerst neugierig, alles über O’Connell zu erfahren. Seine Sticheleien und taktischen Fragen widerten O’Connell mittlerweile an.
»Vergiss es einfach, Zabot. Wer hat angerufen?«
Zabot blickte auf einen Zettel. »Ihr Name ist Ariane Hellenberg. Deutsche Rufnummer.« Er trat an O’Connells Tisch heran und legte ihm den Zettel mit krakelig geschriebenem Namen und Nummer auf die Computertastatur.
»Sie sagte, es gehe um einen Vorfall in Schweden, den die Regierung vertuschen würde, und ob du über Interpol etwas herausbekommen könntest.«
O’Connell runzelte die Stirn. » Das hat sie dir erzählt?«
»Na klar, ich bin doch dein bester Kollege bei Scotland Yard.«
»Arschloch!« O’Connell machte eine Handbewegung, um den anderen zu verscheuchen, und griff nach dem Hörer. Von Ariane hatte er schon seit über einem Jahr nichts gehört.
»Woher kennst du sie?«, fragte Zabot auf dem Weg zur Tür.
»Pass mal auf, Franzose, das geht dich überhaupt nichts an.«
»Ganz wie du meinst, Ire, aber ich denke, wir werden noch darüber reden.« Zabot verließ das Bürozimmer, ließ die Tür aber offen.
O’Connell seufzte. Die alte Leier zwischen ihnen. Wenn er wütend auf Noah war, nannte er ihn einen Franzosen, und der hatte nichts Besseres zu tun, als ihn wegen seines Namens als Iren zu beschimpfen. Natürlich hatte er irische Wurzeln, aber die lagen wesentlich weiter zurück als Zabots französisch-algerische.
Während er die Nummer wählte, rief sich O’Connell Arianes Gesicht in Erinnerung. Sie waren sich durch Zufall in London begegnet. Ariane war auf Urlaubsreise gewesen und sie hatten sich ein Taxi von Heathrow in die Innenstadt geteilt. Anschließend waren sie in der Lounge des Hotels, in dem Ariane ein Zimmer gebucht hatte, hängen geblieben und hatten über vier Stunden bei Tee und Latte macchiato über Gott und die Welt gequatscht. O’Connell war sich sicher, dass er sie rumgekriegt und sie ihn mit auf ihr Zimmer genommen hätte, aber er wahrte An- und Abstand. Sie hielten losen Kontakt per E-Mail und einmal hatte er sie angerufen, weil sie für ihn in ihrer Journalistenfunktion eine Recherche betreiben sollte. Er schuldete ihr etwas dafür, denn dank ihrer Hilfe musste er nicht den bürokratischen Weg wählen und offizielle Kanäle bemühen, was nur zu unzähligen Antragsformularen und dem Warten auf Genehmigungen geführt hätte. Selbstredend hatte er ihr gegenüber erwähnt, dass er für die Londoner Kriminalpolizei arbeitete. Im Umgangsjargon redeten alle von Scotland Yard, als ob es eine Behörde wäre, doch der New Scotland Yard war nur das Gebäude, in dem die Dienststellen des Metropolitan Police Service of London untergebracht waren.
»Hellenberg?«
O’Connell schrak auf. Er war ziemlich vertieft in Erinnerungen gewesen und hatte nicht damit gerechnet, dass jeden Moment jemand abheben konnte.
»Hallo!«, sagte er rasch. Seine Stimme klang heiser. Verflucht!
»Wer ist denn da? Liam?«
»Ja, entschuldige. Ich hatte gerade – wie sagt ihr? – einen Frosch im Hals …«
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