Rocky machte sich über sein Futter her.
»Na, du hast noch was vom Leben. Jemanden, der für dich sorgt und dich den ganzen Tag über in Ruhe lässt.«
Sie ließ den Espresso durchlaufen, gab einen Schuss frische Milch hinzu und setzte sich auf einen Barhocker an den Esstresen, der sich neben dem Küchentisch befand. Zuerst überlegte sie, ob sie noch an dem Artikel weiterschreiben sollte, den sie in der Redaktion abgebrochen hatte, doch sie verspürte nicht die geringste Lust. Vielleicht später.
Stattdessen fischte sie das iPad aus ihrer Laptoptasche und schaltete es ein, um nach neuen E-Mails zu sehen, während sie ihren Espresso genoss.
Sie scrollte durch die Nachrichten. Zehn Mal Spam. Davon sieben gewollter. Newsletter diverser Onlineshops, Parfümerien und Nachrichtenmagazinen. Sie löschte sie alle und stolperte über eine Mail von Sybille.
Hi du,
wie ist es? Bleibt es bei morgen Abend im Moonshine Still ? Ich hab zwei Karten. Crazy Comets spielen und ab halb acht ist Happy Hour. Ich zähl auf dich.
LG
Bille
PS: Was macht die Liebe?
Ariane nippte an dem Espresso und lächelte. Das Moonshine Still war ihre und Sybilles Stammkneipe in Hannover. Gute Musik, gute Drinks, gute Unterhaltung. Und an den Wochenenden gab es Live-Gigs von lokalen Bands. Klar, sie war dabei. Jedoch beschloss sie, die Frage im Nachtrag zu ignorieren. Sybille wusste, dass sich Ariane vor dem New-York-Urlaub von ihrem Ex nach sechs Jahren getrennt und von da an beschlossen hatte, das Single-Dasein zu genießen. Daran hielt sie fest. Und wenn sie einen schlechten Tag hatte und eine Schulter zum Anlehnen brauchte, war da immer noch Rocky. Sie hätte es vorher nie für möglich gehalten, aber ein Hund war tatsächlich der beste Freund des Menschen.
Zumindest mein bester Freund , dachte sie und nahm einen weiteren Schluck von dem Espresso. Sie strich sich eine braune Haarsträhne hinters Ohr und wischte über das Display zur nächsten Nachricht.
»Oh.« Das war seltsam. Ella Degerlund. Von ihr hatte sie schon seit Ewigkeiten nichts gehört. Eine Urlaubsbekanntschaft aus Schweden und Facebook-Freundin. Sie hatten sich im Jahr nach Arianes Trennung kennengelernt, als sie auf einem Skandinavientrip über ihren Liebeskummer hinwegkommen wollte. Nach dem Urlaub hatten sie öfter telefoniert, gemailt und gechattet, doch der Kontakt war irgendwann eingeschlafen und man grüßte nur noch sporadisch im Facebook-Profil zum Geburtstag oder zu Weihnachten.
Wie gewohnt war Ellas Nachricht in Englisch verfasst.
Hallo Ariane,
du wunderst dich sicher, dass ich mich nach langer Zeit mal wieder bei dir melde. Es tut mir leid, dass ich so selten etwas von mir hören lasse. Hoffe, es geht dir gut. Bei mir ist momentan leider alles beschissen. Mein Bruder Vincent, du kennst ihn noch von deinem Aufenthalt in Luleå, seine Frau Mia, die beiden Kinder Casper und Linus – sie sind tot, Ariane, tot. Alle!
Es geschah vor einer Woche am Osterwochenende. Vincent war mit seiner Familie in der Nähe von Boden auf einem Ausflug. Er ist von dort nicht mehr lebend zurückgekehrt. Die Verwaltung von Boden sprach von einem Unfall. Angeblich sind sie in ein Sturmtief geraten, das das Ufer des Buddbyträsket überschwemmt hat. Merkwürdig ist nur, dass es für das Osterwochenende keine Unwetterwarnungen gab. Außer Vincent und seiner Familie befanden sich noch andere Leute am Ufer, die ebenfalls gestorben sind. Die Leichen werden unter Verschluss gehalten, sie wurden für Angehörige nicht freigegeben und das Gebiet rund um den Buddbyträsket ist von Polizei und Militär hermetisch abgeriegelt worden. Die Presse wurde mundtot gemacht. Niemand berichtet mehr über den Vorfall, als hätte er sich nie zugetragen.
Ich weiß nicht mehr weiter, Ariane. Ich bin verzweifelt.
Du arbeitest doch als Journalistin. Kannst du vielleicht irgendetwas herausbekommen? Ich will doch nur meine Familie sehen und wissen, was geschehen ist.
Wenn du Zeit hast, können wir heute Abend vielleicht skypen?
Deine Ella
Ariane merkte, wie ihre Augen beim Lesen feucht wurden. Sie griff nach einem Kleenex am Rande des Tresens und schnäuzte hinein. Das iPad wurde ihr plötzlich zu schwer. Sie legte es aus der Hand und schluckte. Rocky spürte ihre Traurigkeit und kam zu ihr herüber. Er legte sich vor ihre Füße auf den Boden und winselte leise vor sich hin.
Ariane las die E-Mail noch einmal. Sie berührte den Antworten-Button und tippte über die Bildschirmtastatur eine kurze Nachricht zurück, dass sie heute Abend Skype einschaltete und auf Ellas Anruf wartete. Sie wollte ihr Beileid ausdrücken, fand jedoch nicht die richtigen Worte und drückte grußlos auf Senden. Dann wechselte sie von der Mail-App zum Browser und rief die Google-Seite auf. Sie tippte Boden und Katastrophe Buddbyträsket in das Eingabefeld und wählte anschließend die Nachrichtensektion von Google. Dann grenzte sie die Suche nach Meldungen innerhalb der letzten Woche ein.
Nichts.
Sie tippte nur Boden ein.
Zurück am Boden. Lärm am Boden. Auf dem Boden der Tatsachen. Zu Boden geschlagen. In Grund und Boden. Doppelter Boden.
Keine Nachrichten zum schwedischen Ort Boden. Ariane trank den Rest des Espressos und merkte, dass er mittlerweile kalt war. Sie verzog das Gesicht, drückte zweimal die Home-Taste des iPads und wechselte zurück in das Mailprogramm, um sich Ellas Nachricht durchzulesen. Sie hatte sich nicht verlesen. Der Ort stimmte. Als sie anschließend Google Maps startete und den Ort suchte, fand sie ihn auf Anhieb, ebenso wie den besagten See.
Ella hatte erwähnt, dass die Presse mundtot gemacht worden war und niemand darüber berichtete. Das konnte doch nicht sein.
Ariane legte das Pad auf den Tisch und sah zu Rocky. Als der Berner Sennenhund ihren Blick bemerkte, sprang er hoch und legte seine Vorderläufe auf ihren Schoß, damit sie ihn im Nacken kraulen konnte.
»Das Ganze ist reichlich merkwürdig, mein Dicker. Was denkst du, sagt Ella die Wahrheit oder fantasiert sie sich was zusammen?« Sie kannte die Schwedin nicht gut genug, um jederzeit die Hand für sie ins Feuer zu legen. Momentan stand ihr Wort gegen eine fehlende Berichterstattung. Aber selbst wenn die Presse nichts berichtete, musste doch wenigstens feststellbar sein, dass ihr Bruder und seine Familie verstorben waren.
Ariane zog einen Zettel von einem Notizblock und schrieb einige Stichworte auf. Sie würde eine E-Mail nach New York schicken. Einer ihrer Bekannten war Arzt bei der Gesundheitsbehörde. Wenn Ella recht hatte und man das Gebiet um den See abgeriegelt hatte, musste mehr geschehen sein als nur ein Unwetter. Vielleicht eine Virusepidemie, die man eingrenzen wollte?
Morgan-Thorne schrieb sie auf den Zettel. Sie hatte ihn bei einem Symposium kennengelernt und stand in lockerem Kontakt zu ihm.
O’Connell war der nächste Name auf dem Zettel. Liam O’Connell, ein Brite, Inspektor bei Scotland Yard – vielleicht konnte er über seine Interpol-Verbindungen etwas herausfinden. Immerhin war er ihr noch einen Gefallen schuldig.
In Schweden würde sie selbst anrufen. Sie hatte noch Redaktionskontakte. Auch wenn die keine Auskunft über einen Vorfall am Buddbyträsket geben konnten, ließ sich vielleicht über sie herausfinden, ob Vincent Degerlund und seine Familie verstorben war.
So viel zum freien Nachmittag , dachte Ariane und beschloss, sich noch einen zweiten Kaffee zu machen.
Sterbe ich oder sterbe ich nicht?
Die Chancen für Tod oder Leben standen nach Albin Nielsens Einschätzung fünfzig-fünfzig. Der Tod konnte sehr überraschend kommen, doch in diesem Fall war er auf ihn vorbereitet.
Er sah in die Runde und fühlte sich in einen Science-Fiction-Film versetzt. In seiner Gesellschaft befanden sich fünfzehn Männer und Frauen, die in futuristische Ganzkörperpanzeranzüge gehüllt waren, die direkt einem Space-Marine-Szenario entstammen konnten. Die Tyr-Rüstung, benannt nach dem nordischen Gott des Kampfes und des Sieges, war ein hermetisch abgeriegeltes und autark arbeitendes Hightechsystem, das vor allen erdenklichen Gefahren Schutz bieten sollte: vergiftete Luft, verstrahlte Areale, Hitzewände, Kugelfeuer und Explosionsdruckwellen. Mit einer Tyr-Rüstung war ein Überleben unter Wasser bis zu 200 Metern möglich, ebenso konnte man damit Mondspaziergänge unternehmen. Das Innenleben der Anzüge strotzte vor hochtechnologischem Equipment und verfügte über eine ausgezeichnete Sensorik, um die Umgebung wahrzunehmen und Messergebnisse an den im Helm integrierten Computer weiterzuleiten. Strahlungswerte, biologische Erreger, Feinstaubbelastungen, Windgeschwindigkeiten, Temperaturen, Gaskonzentration in der Umgebungsluft: All das war nur ein Bruchteil dessen, was die Messfühler aufnehmen konnten.
Читать дальше