Doch wenn mir das wirklich reicht, wenn mir diese gemütliche Meditationsroutine genügt, warum habe ich mich dann für diese Hardcoreversion angemeldet? Oder um auf eine der vier so einfachen wie einschlägigen Fragen zurückzukommen: Was erwarte ich mir davon? Auf dem Fragebogen habe ich geantwortet: einen Impuls, einen kleinen Anstoß, der mich motiviert, wieder täglich zu üben, was ich seit einigen Monaten vernachlässigt habe. Hätte man sich ausführlicher dazu äußern sollen, hätte ich noch dazuschreiben können, dass ich im Herbst zuvor ein Buch veröffentlicht hatte, Das Reich Gottes , das ziemlich erfolgreich gelaufen war, sodass eine Phase des Repräsentierens, der Eitelkeit und des ständigen Beschäftigtseins gefolgt war, in der es mir zwar besonders nützlich gewesen wäre, jeden Morgen zu meditieren, ich aber genau das nicht geschafft hatte, womit ich mich damals leider abfand. Vierte Definition: Meditation besteht darin, den zu untersuchen, der man wirklich ist, diesen Mischmasch, den man Identität nennt – und derjenige, der ich damals wirklich war, hatte ganz einfach keinen Kopf zum Meditieren. Die Idee ist also, jetzt, wo der ganze Trubel vorbei ist, zu meinen guten Gewohnheiten zurückzufinden. Mich mithilfe eines Intensivtrainings wieder in die richtige Spur zu bringen. Das ist eine redliche Begründung. Doch ich rede um den heißen Brei herum und werde noch eine andere abgeben müssen, die vielleicht weniger redlich ist: Eigentlich bin ich hier, um ein Buch zu schreiben.
Da ich in meinen Büchern am Rande hier und da von Yoga und Meditation gesprochen hatte, war ein Journalist zu mir gekommen, um mich zu diesen Modethemen zu interviewen. Dabei hatte mich zweierlei überrascht: zum einen, wie viel Spaß es mir machte, darüber zu sprechen, und zum anderen, wie unbewandert dieser ansonsten wissbegierige und gebildete junge Mann in diesen Dingen war. Dass Yoga nicht nur eine Art Aerobic war und Meditation nicht nur etwas für Esoteriker, hatte ihn sprachlos gemacht. Und als ich, einmal in Fahrt, noch auf Tai-Chi und die chinesischen Varianten der indischen Meditationspraktiken zu sprechen kam, hatte er sich mit perplexer Begeisterung in seinem Heft die Worte Yin und Yang notiert, als hätte ich vor seinen Augen Keilschriftzeichen entziffert. Zu meiner noch größeren Überraschung stellte ich dieselbe Unbewandertheit aber auch bei vielen Yogapraktizierenden fest, und so dachte ich mir, es könnte doch eine so nützliche wie angenehme Aufgabe sein, im Ton eines Gesprächs am Küchentisch ohne große Ansprüche ein heiteres, feinsinniges Büchlein zu schreiben, um all das von meiner eigenen Erfahrung aus zu beleuchten – die selbstverständlich die eines Schülers ist und keine Lehrmeinung eines Meisters. Ich schrieb sogar schon einen Klappentext für das, was man U4 nennt, das heißt den kleinen Ankündigungstext für die Umschlagseite. Es ist äußerst seltsam für mich, ihn jetzt hier abzutippen, so sehr hat sich dieses Buch von dem entfernt, was ich mir zu Anfang vorgestellt hatte. Er lautete so:
» Was ich Yoga nenne, ist nicht nur die wohltuende Gymnastik, die so viele von uns praktizieren, sondern ein Zusammenspiel von Disziplinen, die der Erweiterung und Sammlung des Bewusstseins dienen. Yoga sagt uns, dass wir etwas anderes sind als unser kleines, verwirrtes, gespaltenes, ängstliches Ich und dass wir Zugang haben zu diesem anderen. Es ist ein Weg – manche sind ihn schon vor uns gegangen und weisen ihn uns. Wenn das, was sie darüber sagen, wahr ist, dann lohnt es sich, selbst nachzusehen, was dran ist .«
Eine angenehme, ja nützliche Aufgabe. Außerdem, sagte ich mir in meinem gierigen tiefsten Inneren, so viele Leute machen heutzutage Yoga und so viele wären froh, mehr darüber zu erfahren, was genau sie da machen, da könnte so ein Buch doch ein Knüller werden.
Bevor wir zehn Tage lang schweigen werden, steht eine Begrüßungsrede auf dem Programm, in der es um die Regeln geht, zu denen man sich zu Beginn dieses Retreats verpflichtet. Sie wird von dem sympathischen jungen Mann gehalten. Und er hält sie ohne jedes Pathos und ohne Anspruch auf die Autorität eines Lehrers. Er und die beiden Männer neben ihm sind einfach Praktizierende, die nach ein, zwei, drei Retreats beschlossen haben, noch einmal in der Rolle von Kurshelfern mitzumachen. Auch sie werden also meditieren, natürlich, dafür sind alle hier, doch statt sich zwischen den Sitzungen auszuruhen, kümmern sie sich ehrenamtlich um die Küche, das Putzen und die verschiedenen Aufgaben drumherum, sprich, sie schmeißen den Laden. Dieses Tun nennt man Karma-Yoga , das Yoga der Tat oder des Dienens: eine selbstlose, wirksame Art, um die Wohltaten, die man selbst erfahren hat, anderen zukommen zu lassen. »Es wird euch vielleicht wundern«, sagt der sympathische junge Mann, »aber glaubt man den Statistiken – und dadurch, dass Vipassana schon vor zwanzig Jahren in Frankreich eingeführt wurde, blicken wir auf eine gewisse Strecke zurück –, kehrt ein Viertel von euch als Kurshelfer hierher zurück. Die kleine Rede, die ich euch gerade halte, werden also manche von euch in gar nicht so ferner Zukunft anderen halten.« Es folgt eine Erinnerung an die verschiedenen Verpflichtungen, die wir eingehen: das Gelände des Meditationszentrums nicht verlassen und innerhalb des Geländes, das ein Stückchen Wald einschließt, auf den abgezäunten Wegen bleiben; die räumliche Trennung von Männern und Frauen aufrechterhalten; die Stille wahren; weder mit der Außenwelt noch untereinander kommunizieren, auch nicht nonverbal; so weit wie möglich Blickkontakt vermeiden; sich bei Problemen an den Lehrer und nur ihn allein wenden; und schließlich, und das ist das Wichtigste, bis zum Schluss dableiben.
»Noch ist es Zeit abzureisen«, sagt der sympathische junge Mann, und sein freundliches Gesicht wird ernst. »Wenn ihr zweifelt, wenn ihr euch nicht sicher seid, ob ihr die genannten Verpflichtungen einhalten könnt, bitten wir euch, jetzt zu gehen. Niemand nimmt euch das übel. Ihr fügt weder anderen noch euch selbst Schaden damit zu. Ihr könnt jederzeit wiederkommen, wenn ihr euch bereit dazu fühlt. Unter den jetzigen Umständen zu gehen ist nicht feige, sondern im Gegenteil, es ist gut. Es ist der Beweis, dass ihr die Situation wertschätzt, das ist die richtige Haltung. Wenn ihr dagegen aus irgendeinem Grund beschließt, mittendrin abzubrechen, irritiert ihr die anderen und gefährdet vor allem euch selbst. Was im Laufe eines Vipassana-Retreats passiert, ist etwas sehr Ernstzunehmendes. Wir arbeiten mit starken psychischen Energien, das kann große Verwirrung stiften. Vielleicht wird es euch in den nächsten zehn Tagen schlecht gehen. Vielleicht fühlt ihr euch aus der Bahn geworfen und verloren, vielleicht weint ihr und habt Angst, vielleicht glaubt ihr, es sei falsch gewesen, hierherzukommen, das alles ist möglich, viele Reaktionen sind möglich und man kann sie nicht vorhersehen. Wenn es euch schlecht geht, sind die Lehrer da, um euch zu helfen. Aber ihr müsst zu dem stehen, was ihr heute Abend gelobt: Was auch immer passiert, ich werde bis zum Ende dableiben. Deshalb denkt bitte nach. Und wenn ihr nachgedacht habt, geht, wenn ihr gehen müsst, aber wenn ihr euch entscheidet zu bleiben, bleibt.«
Schweigen im Raum, ein längeres Schweigen als das, das man auf Hochzeiten erlebt, wenn der Form halber gefragt wird, ob irgendjemand Einwände gegen die Ehe habe. Niemand stellt die Frage: Aber wenn ich trotzdem gehen will, kann ich dann gehen? Oder werdet ihr mich davon abhalten? Sicher würde die Antwort lauten: Die Sache ist nicht, ob wir euch davon abhalten werden oder nicht, sondern, dass ihr nicht gehen sollt . Wie in jenem Balkanland, in dem das politische Personal ständig Zielscheibe von Attentaten war und man ein Gesetz erließ, das besagte: »Auf den Finanzminister schießen: fünfzehn Jahre. Auf den Innenminister schießen: zwanzig Jahre. Auf den Kammerherrn schießen: zehn Jahre. Auf den Premierminister zu schießen ist verboten .«
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