Emmanuel Carrère - Yoga

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Alles beginnt gut: Emmanuel Carrère fühlt sich souverän als Herr über sein gelungenes Leben und plant ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga zu schreiben. Mit leichter Ironie, aber auch echter Hingabe wollte er dem Leser seine Erkenntnisse über Yoga enthüllen, das er er seit einem Vierteljahrhundert betreibt: ein Buch voller Weisheit über das Verhältnis zur Welt, wenn man Abstand zum eigenen Ego gewinnt. Zunächst läuft alles bestens, doch dann wird er während seiner Recherchen vom Tod eines Freundes beim Anschlag auf Charlie Hebdo eingeholt und gleich darauf von einer unkontrollierbaren Leidenschaft erschüttert. Von einem Tag auf den anderen kippt sein Leben, eine bipolare Störung wird diagnostiziert, und Carrère verbringt vier quälende Monate in der geschlossenen Psychiatrie, wo er versucht, seinen Geist mit Gedichten an die Leine zu legen. Entlassen und verlassen lernt er auf Leros in einer Gruppe minderjähriger Geflüchteter ganz anders Haltlose kennen. Zurück in Paris stirbt sein langjähriger Verleger – und doch gibt es am Ende auch wieder Licht. Denn Yoga ist die Erzählung vom mal beherrschten, mal entfesselten Schwanken zwischen den Gegensätzen. Durch schonungslose Selbstanalyse zwischen Autobiografie, Essay und journalistischer Chronik gelingt Carrère der Zugang zu einer tieferen Wahrheit: Was es heißt, ein in den Wahnsinn der Welt geworfener Mensch zu sein.

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Emmanuel Carrère

Yoga

Aus dem Französischen von Claudia Hamm

Inhalt I Das Gehege Die Ankunft Der Fragebogen Die anderen Teleportation nach - фото 1

Inhalt

I. Das Gehege

Die Ankunft

Der Fragebogen

Die anderen

Teleportation nach Tiruvannamalai

Mein Zimmer

Nordkorea?

Zafu in der Bretagne

Tai-Chi auf Dem Berg

Es ist schwer

Es ist einfach

Besoffen meditieren

Raus aus dem Schlamassel?

Hans im Glück

Die Dinge, wie sie sind

Berge mit Kühen

Was wir uns erwarten

Die U4

Die Begrüßungsrede

Das Spiel mitspielen

Strategische Tiefe

Der Gong

Die Halle

Die Haltung

Die Anweisung für die praktischen Aufgaben

Die Stimme

Inhale, exhale

Das Bardo

Aufmerksam sein

Freundschaft zu den Nasenlöchern

Die Brüder Terieur

Ausatmen

Patanjali im Café de l’Église

Yogash chittavritti nirodhah

Vritti

Der Spaziergang

Der längste Weg zwischen zwei Punkten

Die Form

Tai-Chi in der Metro

Wolkenhände

Schnell und langsam

Zugleich

Geh rückwärts nach vorn!

Die Stimme des französischen Dolmetschers

Die Abendansprache

Ich zappele

Es gibt keine Erwachsenen

Bäume umarmen

Büffel zähmen

Sich in die Büsche schlagen

Der falsche Weg

Tränen

Unterm Banyan

Man fühlt sich wohl

Das große Gesetz der Verwandlung

Beide sind wahr

Auf dem Wall

Words, words, words

William Hurt

Der Dieb

Der Wolf

II. 1825 Tage

In unserem Land sind schlimme Dinge passiert

Nacht im Morvan

Hélène und Bernard

Höhere Gewalt

Die Ayurveden

Der russische Zuhältermantel

Angeschmiert

Die unsympathische Geschichte des Asketen Sangamaji

Titten! Titten!

III. Geschichte meines Wahnsinns

Das Geheimzimmer

Der Ort, an dem man nicht lügt

Tachypsychie

Typ II

Yoga für Bipolare

E o matänggg, le lu la mangggscha

Die getrennten Zwillinge

Wyatt Masons Artikel

Der eingemauerte Junge

Der letzte Rat von François Roustang

Der Koran aus Blut

Der Patient bei der Aufnahme

Der Behandlungsplan

Ihr Bruder bittet um Sterbehilfe, was sollen wir tun?

Die Geschlossene

Der Märchengarten

Das verlorene Zimmer

Ich sterbe immer noch nicht

Das Dufy-Plakat

EKT

Zunehmende Merkfähigkeitsstörungen

Ich lerne Gedichte

Vorläufig gutes Funktionsniveau

aber schnelle Einbrüche

IV. Die Jungs

Frederica

Im Pikpa

The night before I left

Michael Haneke

Mein Profilfoto

Toxische Meditation

Nichts im Schrank

A subtle flavour of asshole

Polonaise héroïque

Doppelt

George Langelaans Kurzgeschichte

Molekülyoga

Das Samsung Galaxy

Der Schatten

Atiq reist

Schlechte Erholung

Kotelnitsch

Eine Abschieds- und Verlusterfahrung

Schnell und langsam

Das Gelage

Molenbeek

Die Landungsbrücke

Martha

Was links ist

Ein toter Arm des Lebens

Vom Himmel aus gesehen

Der älteste Bewohner am Ort

Hamid unterrichtet

Dreißig Jahre für nichts?

Die guten alten Hunde

Pinkeln und scheißen

V. Ich sterbe immer noch nicht

Paul in Guadalajara

Das Wichtigste, was du im Leben tust

Wie seine Augen strahlten

Mit zehn Fingern

Freunde, ich schreibe nicht, ich mache Tippübungen

All work and no play make Jack a dull boy

Der Bär

Sich eine Minute lang still hinsetzen

Ein bisschen Salz

Die Abfertigung

Ein Zitat

Niemand konnte sich in meine Liebe betten, und auch ich werde mich in niemandes Liebe betten können

Freundliches Wasser

Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird

das, was in dir ist, dich retten. Wenn du nicht

hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du

nicht hervorgebracht haben wirst, dich töten.

Apokryphes Evangelium nach Thomas

I.

Das Gehege

Die Ankunft

Da ich ja irgendwo anfangen muss mit diesem Bericht über die vier Jahre, in denen ich versucht habe, ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga zu schreiben, mit so wenig Heiterem und Feinsinnigem konfrontiert war wie dem Dschihad-Terrorismus und der Flüchtlingskrise, in eine so tiefe Depression verfiel, dass ich vier Monate lang in der Psychiatrie Sainte-Anne stationiert war, und schließlich meinen Verleger verlor, der zum ersten Mal seit fünfunddreißig Jahren das Buch, das ich geschrieben habe, nicht lesen wird, da ich also irgendwo anfangen muss, entscheide ich mich für diesen Morgen im Januar 2015, an dem ich mich beim Zumachen meiner Tasche fragte, ob ich vielleicht doch mein Telefon mitnehmen sollte, das ich allerdings dort, wo ich hinfuhr, sowieso würde abgeben müssen, oder ob ich es zu Hause lassen sollte. Ich entschied mich für die radikale Variante und fand es schon beim Verlassen unseres Wohnhauses reizvoll, von nun an unter dem Radar zu laufen. Von dort war es nur ein Katzensprung zum Zug am Pariser Bahnhof Bercy, einem bescheidenen und schon ländlich anmutenden Ableger der Gare de Lyon, die speziell die Provinz bedient. Alte Waggons, Abteile wie früher, sechs Sitzplätze in der ersten, acht in der zweiten Klasse, braune und grüngraue Farben, die an die Züge meiner weit zurückliegenden Kindheit in den Sechzigerjahren erinnern. Ein paar Rekruten lagen ausgestreckt auf den Bänken und schliefen, als hätte ihnen keiner erzählt, dass es keine Wehrpflicht mehr gibt. Zur staubigen Fensterscheibe gewandt schaute meine einzige Platznachbarin zu, wie unter grauem Nieselregen die graffittibesprühten Wohnblöcke vom Stadtrand und dann der östlichen Banlieue von Paris vorbeizogen. Die junge Frau sah aus wie eine Trekkerin, sie war auch so gekleidet und hatte einen riesigen Rucksack dabei. Ich fragte mich, ob sie wohl vorhatte, eine Tour im Morvan zu machen, wie ich früher einmal, wobei ich unter ähnlich widrigen Umständen in Vézelay aufgebrochen war, oder ob sie, wer weiß, gar zum selben Ort fuhr wie ich. Ich hatte absichtlich kein Buch mitgenommen, und so verbrachte ich die Fahrt – anderthalb Stunden – damit, meinen Blick und meine Gedanken in einer Art gelassenen Ungeduld umherschweifen zu lassen. Auch wenn ich nicht recht wusste, was genau, erwartete ich doch sehr viel von diesen kommenden zehn Tagen, in denen ich offline und unerreichbar sein würde. Ich beobachtete meine Erwartung, beobachtete meine gelassene Ungeduld. Es war interessant. Als der Zug in Laroche-Migennes hielt, stieg die junge Frau mit dem großen Rucksack zusammen mit mir aus und lief wie ich und wie etwa zwanzig weitere Personen zum Grünstreifen vor dem Bahnhof, wo ein Bus uns abholen sollte. Schweigend standen wir da und warteten, keiner kannte keinen. Jeder schaute seine Mitwartenden an und fragte sich, ob sie eigentlich normal aussahen. Ich würde sagen: eher ja. Als der Bus kam, setzten sich manche zu zweit hin, ich mich dagegen allein, doch kurz vor der Abfahrt stieg zuletzt noch eine etwa fünfzigjährige Frau mit einem schönen, ernsten, hageren Gesicht ein und nahm neben mir Platz. Ein schnelles, halblautes Hallo, dann schloss sie die Augen und bedeutete mir damit, ohne ablehnend zu wirken, dass sie nicht vorhatte, ein Gespräch anzuknüpfen. Niemand redete. Der Bus war schnell raus aus der Stadt und rollte nun über schmale Straßen durch kleine Weiler, in denen absolut nichts geöffnet zu sein schien, nicht einmal die Fensterläden. Nach einer halben Stunde bog er in einen ungepflasterten, eichengesäumten Weg ein und hielt auf einem Kiesplatz vor einem niedrigen Gehöft. Wir stiegen aus, luden das Gepäck aus und betraten durch getrennte Türen das Gebäude: hier die Männer, dort die Frauen. Wir Männer landeten in einem großen, von Neonröhren beleuchteten Raum, der eingerichtet war wie eine Schulmensa und dessen Wände blassgelb gestrichen und mit kleinen Plakaten behängt waren, auf denen in kalligrafischer Schrift buddhistische Weisheiten geschrieben standen. Es waren auch neue Gesichter dort, Leute, die nicht zuvor im Bus gewesen und wohl mit dem Auto gekommen waren. Hinter einem Tisch mit Resopalplatte empfing ein junger Mann in T-Shirt – alle anderen trugen mindestens einen Pullover oder eine Fleecejacke – und mit einem offenen, sympathischen Gesicht die Neuankömmlinge. Bevor man sich bei ihm registrierte, sollte man einen Fragebogen ausfüllen.

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