Emmanuel Carrère
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
I. Das Gehege
Die Ankunft
Der Fragebogen
Die anderen
Teleportation nach Tiruvannamalai
Mein Zimmer
Nordkorea?
Zafu in der Bretagne
Tai-Chi auf Dem Berg
Es ist schwer
Es ist einfach
Besoffen meditieren
Raus aus dem Schlamassel?
Hans im Glück
Die Dinge, wie sie sind
Berge mit Kühen
Was wir uns erwarten
Die U4
Die Begrüßungsrede
Das Spiel mitspielen
Strategische Tiefe
Der Gong
Die Halle
Die Haltung
Die Anweisung für die praktischen Aufgaben
Die Stimme
Inhale, exhale
Das Bardo
Aufmerksam sein
Freundschaft zu den Nasenlöchern
Die Brüder Terieur
Ausatmen
Patanjali im Café de l’Église
Yogash chittavritti nirodhah
Vritti
Der Spaziergang
Der längste Weg zwischen zwei Punkten
Die Form
Tai-Chi in der Metro
Wolkenhände
Schnell und langsam
Zugleich
Geh rückwärts nach vorn!
Die Stimme des französischen Dolmetschers
Die Abendansprache
Ich zappele
Es gibt keine Erwachsenen
Bäume umarmen
Büffel zähmen
Sich in die Büsche schlagen
Der falsche Weg
Tränen
Unterm Banyan
Man fühlt sich wohl
Das große Gesetz der Verwandlung
Beide sind wahr
Auf dem Wall
Words, words, words …
William Hurt
Der Dieb
Der Wolf
II. 1825 Tage
In unserem Land sind schlimme Dinge passiert
Nacht im Morvan
Hélène und Bernard
Höhere Gewalt
Die Ayurveden
Der russische Zuhältermantel
Angeschmiert
Die unsympathische Geschichte des Asketen Sangamaji
Titten! Titten!
III. Geschichte meines Wahnsinns
Das Geheimzimmer
Der Ort, an dem man nicht lügt
Tachypsychie
Typ II
Yoga für Bipolare
E o matänggg, le lu la mangggscha
Die getrennten Zwillinge
Wyatt Masons Artikel
Der eingemauerte Junge
Der letzte Rat von François Roustang
Der Koran aus Blut
Der Patient bei der Aufnahme
Der Behandlungsplan
Ihr Bruder bittet um Sterbehilfe, was sollen wir tun?
Die Geschlossene
Der Märchengarten
Das verlorene Zimmer
Ich sterbe immer noch nicht
Das Dufy-Plakat
EKT
Zunehmende Merkfähigkeitsstörungen
Ich lerne Gedichte
Vorläufig gutes Funktionsniveau …
… aber schnelle Einbrüche
IV. Die Jungs
Frederica
Im Pikpa
The night before I left
Michael Haneke
Mein Profilfoto
Toxische Meditation
Nichts im Schrank
A subtle flavour of asshole
Polonaise héroïque
Doppelt
George Langelaans Kurzgeschichte
Molekülyoga
Das Samsung Galaxy
Der Schatten
Atiq reist
Schlechte Erholung
Kotelnitsch
Eine Abschieds- und Verlusterfahrung
Schnell und langsam
Das Gelage
Molenbeek
Die Landungsbrücke
Martha
Was links ist
Ein toter Arm des Lebens
Vom Himmel aus gesehen
Der älteste Bewohner am Ort
Hamid unterrichtet
Dreißig Jahre für nichts?
Die guten alten Hunde
Pinkeln und scheißen
V. Ich sterbe immer noch nicht
Paul in Guadalajara
Das Wichtigste, was du im Leben tust
Wie seine Augen strahlten
Mit zehn Fingern
Freunde, ich schreibe nicht, ich mache Tippübungen
All work and no play make Jack a dull boy
Der Bär
Sich eine Minute lang still hinsetzen
Ein bisschen Salz
Die Abfertigung
Ein Zitat
Niemand konnte sich in meine Liebe betten, und auch ich werde mich in niemandes Liebe betten können
Freundliches Wasser
Wenn du hervorbringst, was in dir ist, wird
das, was in dir ist, dich retten. Wenn du nicht
hervorbringst, was in dir ist, wird das, was du
nicht hervorgebracht haben wirst, dich töten.
Apokryphes Evangelium nach Thomas
I.
Das Gehege
Die Ankunft
Da ich ja irgendwo anfangen muss mit diesem Bericht über die vier Jahre, in denen ich versucht habe, ein heiteres, feinsinniges Büchlein über Yoga zu schreiben, mit so wenig Heiterem und Feinsinnigem konfrontiert war wie dem Dschihad-Terrorismus und der Flüchtlingskrise, in eine so tiefe Depression verfiel, dass ich vier Monate lang in der Psychiatrie Sainte-Anne stationiert war, und schließlich meinen Verleger verlor, der zum ersten Mal seit fünfunddreißig Jahren das Buch, das ich geschrieben habe, nicht lesen wird, da ich also irgendwo anfangen muss, entscheide ich mich für diesen Morgen im Januar 2015, an dem ich mich beim Zumachen meiner Tasche fragte, ob ich vielleicht doch mein Telefon mitnehmen sollte, das ich allerdings dort, wo ich hinfuhr, sowieso würde abgeben müssen, oder ob ich es zu Hause lassen sollte. Ich entschied mich für die radikale Variante und fand es schon beim Verlassen unseres Wohnhauses reizvoll, von nun an unter dem Radar zu laufen. Von dort war es nur ein Katzensprung zum Zug am Pariser Bahnhof Bercy, einem bescheidenen und schon ländlich anmutenden Ableger der Gare de Lyon, die speziell die Provinz bedient. Alte Waggons, Abteile wie früher, sechs Sitzplätze in der ersten, acht in der zweiten Klasse, braune und grüngraue Farben, die an die Züge meiner weit zurückliegenden Kindheit in den Sechzigerjahren erinnern. Ein paar Rekruten lagen ausgestreckt auf den Bänken und schliefen, als hätte ihnen keiner erzählt, dass es keine Wehrpflicht mehr gibt. Zur staubigen Fensterscheibe gewandt schaute meine einzige Platznachbarin zu, wie unter grauem Nieselregen die graffittibesprühten Wohnblöcke vom Stadtrand und dann der östlichen Banlieue von Paris vorbeizogen. Die junge Frau sah aus wie eine Trekkerin, sie war auch so gekleidet und hatte einen riesigen Rucksack dabei. Ich fragte mich, ob sie wohl vorhatte, eine Tour im Morvan zu machen, wie ich früher einmal, wobei ich unter ähnlich widrigen Umständen in Vézelay aufgebrochen war, oder ob sie, wer weiß, gar zum selben Ort fuhr wie ich. Ich hatte absichtlich kein Buch mitgenommen, und so verbrachte ich die Fahrt – anderthalb Stunden – damit, meinen Blick und meine Gedanken in einer Art gelassenen Ungeduld umherschweifen zu lassen. Auch wenn ich nicht recht wusste, was genau, erwartete ich doch sehr viel von diesen kommenden zehn Tagen, in denen ich offline und unerreichbar sein würde. Ich beobachtete meine Erwartung, beobachtete meine gelassene Ungeduld. Es war interessant. Als der Zug in Laroche-Migennes hielt, stieg die junge Frau mit dem großen Rucksack zusammen mit mir aus und lief wie ich und wie etwa zwanzig weitere Personen zum Grünstreifen vor dem Bahnhof, wo ein Bus uns abholen sollte. Schweigend standen wir da und warteten, keiner kannte keinen. Jeder schaute seine Mitwartenden an und fragte sich, ob sie eigentlich normal aussahen. Ich würde sagen: eher ja. Als der Bus kam, setzten sich manche zu zweit hin, ich mich dagegen allein, doch kurz vor der Abfahrt stieg zuletzt noch eine etwa fünfzigjährige Frau mit einem schönen, ernsten, hageren Gesicht ein und nahm neben mir Platz. Ein schnelles, halblautes Hallo, dann schloss sie die Augen und bedeutete mir damit, ohne ablehnend zu wirken, dass sie nicht vorhatte, ein Gespräch anzuknüpfen. Niemand redete. Der Bus war schnell raus aus der Stadt und rollte nun über schmale Straßen durch kleine Weiler, in denen absolut nichts geöffnet zu sein schien, nicht einmal die Fensterläden. Nach einer halben Stunde bog er in einen ungepflasterten, eichengesäumten Weg ein und hielt auf einem Kiesplatz vor einem niedrigen Gehöft. Wir stiegen aus, luden das Gepäck aus und betraten durch getrennte Türen das Gebäude: hier die Männer, dort die Frauen. Wir Männer landeten in einem großen, von Neonröhren beleuchteten Raum, der eingerichtet war wie eine Schulmensa und dessen Wände blassgelb gestrichen und mit kleinen Plakaten behängt waren, auf denen in kalligrafischer Schrift buddhistische Weisheiten geschrieben standen. Es waren auch neue Gesichter dort, Leute, die nicht zuvor im Bus gewesen und wohl mit dem Auto gekommen waren. Hinter einem Tisch mit Resopalplatte empfing ein junger Mann in T-Shirt – alle anderen trugen mindestens einen Pullover oder eine Fleecejacke – und mit einem offenen, sympathischen Gesicht die Neuankömmlinge. Bevor man sich bei ihm registrierte, sollte man einen Fragebogen ausfüllen.
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