Emmanuel Carrère
Julies Leben
Aus dem Französischen
von Claudia Hamm
Mit Fotografien
von Darcy Padilla
punctum 016
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Das rund um die 6th Street im Zentrum von San Francisco gelegene Tenderloin ist ein Umschlagplatz für Crack und eine Heimat von Elend und Kriminalität – man sieht dort sogar Leute Zigaretten rauchen, und das will was heißen. Die meisten Hotels arbeiten mit den Sozialbehörden zusammen, und diese überweisen ihnen direkt die Miete für ihre Gäste, damit die Zimmer auch garantiert bezahlt sind, bevor Erstere losrennen, um sich ihre tägliche Dosis zu beschaffen. Anfang der 1990er Jahre, auf dem Höhepunkt der Aids-Epidemie, dienten diese Hotels überfüllten Krankenhäusern auch als Außenstellen und man brachte dort die Patienten unter, für die außer täglichen Morphinspritzen nichts mehr zu machen war. Auch das Ambassador gehörte dazu, das die junge Fotografin Darcy Padilla von 1992 an regelmäßig aufsuchte, weil sie eine Ärztin auf ihrer Visite begleitete, über die sie eine Reportage machte. Als die Dokumentation fertig war, kam sie allein wieder, um über längere Zeit hinweg Kranke zu fotografieren, mit denen sie Freundschaft geschlossen hatte. Noch heute erzählt sie bewegt von Dorian, dem Transsexuellen, der so stolz auf seine Brüste war, von Diane, die gerade noch 30 Kilo wog, und von Steven, dem sie einen Erzählband von Salinger geschenkt hatte und der so große Angst hatte, allein zu sterben, dass sie ihm am liebsten versprochen hätte, im entscheidenden Moment bei ihm zu sein, doch sie wusste, dass man nichts versprechen sollte, was man nicht auch sicher halten könne, und obwohl sie täglich mehrere Stunden mit Steven verbrachte, ihm vorlas und ihn mit Vanilleeis fütterte – das Einzige, was er noch zu sich nehmen konnte –, war sie doch nicht ununterbrochen bei ihm, und er ist tatsächlich, wahrscheinlich in Panik und Verzweiflung, um drei Uhr morgens allein gestorben, während Darcy ruhig an der Seite ihres damaligen Freundes sieben oder acht Blocks entfernt schlief.
Die Geschichten von Dorian, Diane, Steven und vielen anderen ähnelten sich: von Armut und Gewalt geprägte Familien, in zartem Alter erste Ausreißversuche, dann Drogen, Prostitution, ein Leben auf der Straße und schließlich die Krankheit, die sie befiel, in Klappergestelle voller Druckgeschwüre verwandelte und letztlich ins schwarze Loch zog: ein düsteres Zimmer im Hotel Ambassador . Diese Leute, die damals zwanzig oder dreißig Jahre alt waren, sind inzwischen alle tot, und niemand erinnert sich mehr an sie außer Darcy, die von jedem von ihnen, in Schachteln mit ihren Namen darauf, Hunderte von Fotos aufbewahrt. Diese Schwarzweißabzüge, auf denen man sie lachen, weinen und ihre Wunden, Ängste und Nöte ausstellen sieht, sind die einzigen Spuren, die von ihrem Erdendasein übrig sind. Das Buch, das Darcy damals vorschwebte, sollte Separate Lives, Different Worlds: Living Poor in Urban America heißen und sich nicht nur um einen von ihnen drehen, vielmehr war es als Porträtsammlung gedacht, und als sie Julie kennenlernte, hätte sie nie geglaubt, dass sie die nächsten achtzehn Jahre damit verbringen würde, eine Chronik ihres Lebens zu fotografieren – und ihres Todes.
Julie und Jack waren Bewohner des Ambassador wie viele andere, doch sie unterschieden sich auch von ihnen, denn beide waren zwar HIV-positiv, aber nicht krank, und sie hatten sogar gerade ein Kind bekommen. Sie war neunzehn, er einundzwanzig – und Rachel acht Tage alt. Julie verbrachte den größten Teil des Tages mit Rachel in der Hotellobby, wo sie sich wohler fühlte als in ihrem flohverseuchten Zimmer. Sie saß in einem Sessel an der Fensterfront zur Straße hin, mit weitgeöffnetem Hosenschlitz über ihrem von der Schwangerschaft noch gedehnten Bauch. Sie war misstrauisch, mürrisch, und wenn jemand sie ansprach, schickte sie ihn zum Teufel. Doch Darcy schlug ihr freundlich vor, ihr Baby zu fotografieren, was seit seiner Geburt noch niemand getan hatte, und daraufhin wurde sie zugänglicher. Trotz ihrer Vorbehalte gegenüber jedweder Bitte um Unterschrift erklärte sie sich bereit, das Formular zu unterzeichnen, das Darcy ihr hinhielt: eine Einverständniserklärung, sich fotografieren zu lassen und die Fotos für eine mögliche Veröffentlichung freizugeben. Bald darauf kam Jack dazu, er nahm Rachel in den Arm und spielte den jungen, gerührten Papa, doch rührend war vor allem, wie unbeholfen er sich darum bemühte, diese Rolle zu verkörpern. Denn im Grunde waren sie sehr froh, als junge Eltern fotografiert zu werden. Es war, als seien sie normale Leute, als hätten sie eine Familie. An diesem Tag im Januar 1993 wurde Darcy zu ihrer Familie.
Darcy Padilla ist eine brünette, schöne, willensstarke Frau, und als ich bei unserem ersten Treffen aus dieser selbstgewissen Schönheit und der Leichtigkeit, mit der sie ihren Platz in der Welt einnimmt, voreilig schloss, sie käme aus einem wohlhabenden Milieu, musste sie laut lachen. »Was würdest du sagen?«, fragte sie ihren Freund Andy. »Proletin oder Kleinbürgerin? Working class or lower middle class? « » Let’s say lower lower middle class. « Wenn Klein-, dann Kleinstbürgerin. Ihr Vater hat mexikanische Wurzeln und war Sozialarbeiter, ihre Mutter verteilte in einem Krankenhaus das Essen. In den kleinen Ortschaften im Hinterland von Kalifornien, in denen Darcy und ihr Bruder aufwuchsen, waren die beiden immer die Latinos, die kleinen chicanos – und außerdem die Klassenbesten. Katholische Schule, Leistungskult, feste Prinzipien: Als Darcy mit zehn Jahren Klassensprecherin werden wollte, mokierte sich ihr Vater über ihre Parole »Wählt Darcy Padilla«. »Du kannst was Besseres werden, meine Kleine, aber wenn du schon bei der Politik gelandet bist, sag ich dir eins: Es gibt zwei Arten von Politikern. Die, die Versprechungen machen und sie nicht halten, und die, die sich Versprechen verkneifen, wenn sie sich nicht sicher sind, sie auch halten zu können. Such dir aus, zu welchem Lager du gehörst.« Als Steven ihr das Versprechen abringen wollte, ihm beim Sterben die Hand zu halten, erinnerte sie sich daran. Ihre große Tat als Klassensprecherin, denn natürlich wurde sie gewählt, war dann die Herausgabe eines Jahrbuchs, für das sie die Fotos schoss. Und von dem Tag an, da sie eine kleine Kompaktkamera in den Händen hielt, wusste sie, was sie in ihrem Leben machen wollte – und blieb dabei. Ich überspringe ihre – hervorragenden – Leistungen im Studium und ihre kleinen Jobs und Praktika und erwähne nur, dass sie mit zwanzig eines bei der New York Times absolvierte und daraufhin das Angebot bekam, übernommen zu werden. Sie lehnte trotz der Versuchung von Sicherheit ab, denn ein Vollzeitjob hätte ihr nicht mehr erlaubt, das zu machen, was sie machen wollte und wie sie es wollte. Die erste Reportage, die sie dann verkaufte, drehte sich um eine Obdachlose, die in Pappkartons am Rand eines Busbahnhofs lebte. Danach fotografierte sie Straßenkinder in Guatemala, eine Zufluchtsstätte für wohnungslose Frauen, dann Aidskranke im Gefängnis. Ihr Thema ist die Armut: Wenn man sie losschicken würde, um über den Geburtstag eines russischen Oligarchen in Courchevel zu berichten, brächte sie es wohl fertig, mit Fotos von zahnlosen Menschen zurückzukommen, die auf der Straße torkelnd allein vor sich hin reden oder hinter den Skiliften Klebstoff schnüffeln. Auf und an ihrer Seite glaubt sie sein zu müssen, doch sie zieht auch klare Grenzen. Aus ihrer Kindheit kennt sie Armut aus nächster Nähe, denn Mister Padilla, wie man ihren Vater respektvoll nannte, betreute an ihren verschiedenen Wohnorten sämtliche jugendlichen Junkies und Delinquenten, und sie hat keinerlei Drang, sich selbst in Gefahr zu bringen. Darcy ist keine Nan Goldin: Niemand in ihrem Freundeskreis ist an Aids gestorben, sie hat noch nie in ihrem Leben einen Joint geraucht, sie ist optimistisch, sportlich und achtet darauf, was sie isst, und ich glaube, nur weil sie so straight durch ihr eigenes Leben geht, kann sie sich kaputten Schicksalen wie dem von Julie so angemessen annehmen. Sie geht auf die Leute zu, fragt sich stets, was es hieße, in ihrer Haut zu stecken, und bleibt doch in ihrer eigenen. Wie mein Freund, der Richter Étienne Rigal, sagen würde – und das ist für ihn das größte Kompliment, das man einem Menschen machen kann –, sie weiß, wo sie steht.
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