Jetzt sitzen wir alle. Die kollektive Erwartung steht spürbar in der Luft. Jede Meditationsphase dauert zwei Stunden, und ich bin mehr als gespannt, wie ich zwei Stunden Reglosigkeit aushalten werde. Mein normales Maß sind zwanzig, dreißig Minuten. Ich warte darauf, dass der Mann oder die Frau auf dem Podest das Wort ergreift und uns zumindest anfangs anleitet. Und ich kann noch so genau gehört haben, was der sympathische junge Mann gestern Abend gesagt hat, und kann mir noch so sehr vorgenommen haben, meinen kritischen Geist für zehn Tage in den Schrank zu hängen, ich habe Angst, gleich eine dieser frommen, gütigen Stimmen zu hören, die mich rasend machen: die Stimme der Priester aller Glaubensrichtungen, und die New-Age-Priester sind die allerschlimmsten. Was für gute Vorsätze auch immer ich also haben mag – »der Mann, der sich für überlegen, unterlegen und so weiter hält« –, ich weiß, was jetzt kommt, könnte kompliziert werden. Doch was plötzlich aus der Stille ertönt, ist eine sonore Bassstimme, eine Stimme aus den Tiefen der Zeiten oder Meere, die sehr langsam etwas zu psalmodieren beginnt, das ein Gebet oder eine Anrufung sein muss, ich nehme an auf Sanskrit – tatsächlich, erfahre ich später, ist es Pali. Ich begreife, dass es eine Tonaufnahme ist und dass diese Bassstimme die des verstorbenen S. N. Goenka sein muss, des alten birmanischen Meisters, der für die Vipassana-Methode das ist, was B. K. S. Iyengar für die Yogamethode seines Namens ist. Die Anrufung dauert lange, sehr lange. Dann, nach einer ebenfalls sehr langen Pause, beginnt der Meister, Englisch zu sprechen, indisches Englisch, jenes von Peter Sellers in The Party , und was er sagt, wird nach und nach von einer ebenfalls aufgezeichneten Stimme übersetzt – einer hellen, volltönenden Männerstimme, gegen die nichts einzuwenden ist und die ich auf Anhieb akzeptieren kann.
Inhale, exhale , sagt S. N. Goenkas Stimme.
Atmet ein, atmet aus, übersetzt der Dolmetscher.
Spürt die Luft, die in die Nasenlöcher einströmt, und die Luft, die aus den Nasenlöchern ausströmt.
Atmet ganz ruhig, versucht nicht, eure Atmung zu kontrollieren.
Einatmung, Ausatmung: Lasst den Atemzyklen freien Lauf.
Versucht nichts zu kontrollieren. Versucht nichts zu steuern.
Beobachtet einfach.
Beobachtet, was passiert. Beobachtet eure Empfindungen.
Die Empfindungen in euren Nasenlöchern.
Vielleicht denkt ihr am Anfang, in den Nasenlöchern empfindet ihr nichts, aber ihr empfindet immerzu etwas, in jedem Millimeter eures Körpers. An der Oberfläche eurer Haut, im Inneren eures Körpers.
An den Stellen, wo das Innere und das Äußere eures Körpers in Verbindung treten.
Spürt ihr Wärme in den Nasenlöchern? Oder Kühle? Habt ihr Lust, euch zu kratzen? Lust, euch zu schnäuzen?
Gebt dieser Lust nicht nach. Beobachtet sie.
Betrachtet eure Gelüste als Empfindungen. Es gibt angenehme und unangenehme Empfindungen. Wir streben nach den angenehmen und versuchen die unangenehmen zu vermeiden. Die Lust, sich zu kratzen, ist eine unangenehme Empfindung. Beobachtet das Unangenehme, das sie bereitet. Versucht nicht, es zu verändern. Diese unangenehme Empfindung ist die Wirklichkeit dieses Augenblicks, und ihr seid hier, um sie zu beobachten. Sie nur zu beobachten.
Vielleicht achtet ihr seit einer Weile nicht mehr auf eure Atmung.
Vielleicht achtet ihr nicht mehr auf eure Empfindungen.
Widmet euch ihnen wieder. Widmet euch freundlich euren Empfindungen. Freundlich, strebsam, beharrlich.
Holt euren Geist in eure Atmung zurück, ins Innere eurer Nasenlöcher.
Holt euren Geist ins Jetzt zurück.
Das Jetzt ist eure Atmung.
Inhale, exhale .
Nach der tibetischen Tradition sind die Tage kurz nach dem Tod entscheidender als die davor. Der Gestorbene dringt in ein dunkles Zwischenreich vor, ein psychisches Labyrinth, aus dem entweder die Befreiung vom Samsara herausführt, das auch unter dem Namen Erdendasein bekannt ist, oder eine neue, mehr oder weniger vorteilhafte Wiedergeburt oder aber die Hölle. Diese twilight zone , durch die jeder nach seinem Tod durchmuss, nennt sich Bardo. Die tibetischen Buddhisten haben ihn extrem genau kartografiert: trügerische Abzweigungen, Erdrutsche, Rudel wilder Hunde, Wege, die nirgends hinführen, Licht am Ende des Tunnels … Der Führer durch das Bardo, das tibetische Totenbuch Bardo Thödröl , wurde dem Verstorbenen während der drei Tage nach seinem Tod ins Ohr gelesen, um ihn auf seiner Reise zu begleiten. Ich kann mir gut vorstellen, wie S. N. Goenka dieses Ritual vollzog. Ich glaube, wenn ich gerade gestorben wäre, mein Körper im Sarg läge und meine Seele im Bardo herumirren würde, fände ich es auch sehr beruhigend, an meinem Ohr seine tiefe, friedliche, versonnene, wunderbar gleichförmige Stimme eine unverständliche Sprache murmeln zu hören, die so alt ist wie die Menschheit und an deren Tempo ich mich gewöhne, so wie man sich an indische Musik gewöhnt. Statt einer Melodie zu folgen, die sich linear und mehr oder weniger schnell oder langsam entwickelt, versetzen diese sich unendlich lang hinziehenden Stücke, die man Ragas nennt, in eine Reglosigkeit, die nach allen Seiten ausstrahlt, sodass man einerseits nie weiß, wo man sich gerade befindet, und andererseits immer im Zentrum ist. Der Abstand zwischen S. N. Goenkas Sätzen ist jetzt so groß geworden, dass man sich bei jedem Satz denkt, das ist sicher der letzte, und dann, weil es nicht der letzte ist, dass S. N. Goenka oder derjenige, dessen Avatar er ist, uns weiterführen wird, bis wir das Samsara verlassen haben. Von S. N. Goenkas Stimme gewiegt, fühlt man sich in Sicherheit und bereit, sich ins Bardo vorzuwagen oder in die Tiefen des eigenen Selbst, was wahrscheinlich dasselbe ist. Von S. N. Goenkas Stimme betört, werden die kleinen Affen, die ständig von Ast zu Ast springen und in der buddhistischen Vorstellung die Unruhe und Zerstreutheit des Geistes verkörpern, ruhiger und setzen sich brav zu seinen Füßen. Und dann kommt der Moment, da S. N. Goenka und sein Übersetzer wirklich nichts mehr sagen. Man muss sich damit abfinden, dass der letzte Satz wirklich der letzte war und wir uns selbst überlassen sind.
Siebte Definition für Meditation: aufmerksam sein. Genau dafür sind Übungen da, sagte Simone Weil. Nicht, um Dinge zu lernen, wir wissen genug Dinge, sondern um die Aufmerksamkeit zu schärfen. Der Osten weiß mehr darüber als der Westen. Der Osten hat Techniken entwickelt und Meditationsobjekte ausfindig gemacht. Jeder kann sich aus diesem Fundus bedienen. Manche sagen sich in der Stille ein Mantra auf. Andere meditieren lieber auf ein Zen-Koan, einen dieser rätselhaften, hellsichtigen Sätze, die ein Meister seinem Schüler zum jahrelangen Grübeln aufgibt. »Wie sah dein Gesicht aus, bevor du ein Gesicht hattest? Bevor deine Eltern dich gezeugt haben? Welches Geräusch macht eine einzelne klatschende Hand?« Solche Fragen sollen nach und nach eine Art geistigen Kurzschluss erzeugen: Irgendwann springen die Sicherungen raus, das diskursive Denken wird ausgeschaltet und Satori erlangt – die japanische Bezeichnung für Erleuchtung. Man kann auch die Flamme einer Kerze anschauen, ihren kleinsten Bewegungen folgen und das eigene Gehirn so mit dieser Flamme verbinden, dass es selbst zu dieser Flamme wird. Oder sich vor einen Gegenstand setzen, egal welchen, sagen wir meine kleinen Zwillinge, und sie ansehen. Sie so aufmerksam wie möglich ansehen und dann die Augen schließen und versuchen, sie sich vorzustellen. Versuchen, hinter den Augenlidern so genau wie möglich ihre Umrisse zu rekonstruieren, die kurz zuvor über die geöffneten Augen und den Sehnerv zum Gehirn gewandert sind. Man formt dieses Bild im Kopf, öffnet nach einer Weile die Augen, kehrt zum wirklichen Bild zurück, dem, das sich auf die Netzhaut prägt, merkt es sich so gut wie möglich, schließt die Augen wieder und korrigiert und vertieft das Bild im Kopf. Man entdeckt, dass hinter den Augenlidern wie in dem doch recht einfachen Umriss einer kleinen Skulptur die Unendlichkeit liegt. All diese Techniken haben ihre Vorteile, und es ist für jeden etwas dabei. Die verbreitetste und universellste jedoch ist, die Aufmerksamkeit auf die Atmung zu richten. Indem Buddha seinem Atemfluss folgte, wurde er »der Welt, der Erscheinung der Welt, des Endes der Welt und des Wegs, der zum Ende der Welt führt« gewahr, anders gesagt, erreichte er das Nirwana. Von allen Körperphänomenen ist es das dem Bewusstsein am leichtesten zugängliche. Versuchen Sie mal dasselbe mit der Verdauung oder dem Blutkreislauf: Ich behaupte nicht, dass man nicht auch sie zu Meditationsobjekten machen kann, ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass man das kann, ich sage nur, dass das für Anfänger wie Sie und mich außer Reichweite liegt. Auf die Atmung kann man immer zurückgreifen, denn man hört nie auf zu atmen. Man kann lernen, sie zu steuern. Als ich Tai-Chi und später Yoga praktizierte, habe ich in sehr groben Zügen Ansätze von sehr subtilen Techniken gelernt: den Kleinen Kreislauf, Pranayama . Doch hier verlangt man etwas anderes von uns. Was man hier von uns will, ist sogar das Gegenteil davon, und, wie Kapitän Haddock sagt, »es ist ganz einfach und zugleich sehr schwer«. Normal zu atmen scheint erstmal einfacher zu sein als den Atem die Meridiane entlangfließen zu lassen, aber tatsächlich ist es schwieriger. Nichts Besonderes dabei zu tun, scheint einfach zu sein, aber es ist viel schwieriger, als etwas Besonderes dabei zu tun, es ist sogar schwer. Und seine Atmung zu beobachten, ohne dass die Beobachtung sie verändert, ist nicht nur schwer, sondern unmöglich. Es ist unmöglich, aber man versucht es trotzdem. Dafür ist man hier.
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