Wie recht er doch hatte, Rabbi Haussteiner, wie recht er doch hatte. Einer der wenigen Menschen von denen ich aufrichtig sagen konnte, dieser Rabbi war ein wirklicher Freund. Seine Lebensgeschichte und die seiner Familie, seine fürchterlichen Erlebnisse während des Holocausts, habe ich neben anderen Personenerinnerungen in meinem Roman „Der Hausfreund“ erzählt. Möge er in Frieden ruhen und sein Seelenglück gefunden haben. Werde ich jemals mein Seelenglück finden? Und wenn ja - wo wird das sein? An Bord eines Tauchbootes auf dem Grund des Ozeans, einfach dort verweilen, für immer und ewig. Stille, absolute Stille und ewige Dunkelheit. Nur ab und an erhellt von den Irrlichtern der Unendlichkeit. Das langsame abgleiten in die Sphären der Anderswelt, nach Helheim, wo die Göttin Hel über ihre dunkle Welt herrscht, so der Name des Totenreiches in der keltisch-nordischen Mythologie. Die Anderswelt - in wenigen Tagen - so Gott und die Georgi Schukow will, werden wir dem ewigen Eis und den Göttern des Nordens und der Tiefsee näher sein als uns allen vielleicht lieb ist. Mag die Technik vorzüglich funktionieren und sicher sein, letztlich hängt alles auch vom Wetter ab. Der Nordatlantik in jenen Breitengraden ist unberechenbar; das Wettergeschehen kann sich in wenigen Stunden grundlegend ändern; Schiffe wie die Georgi Schukow sind so konzipiert, um damit umgehen zu können, aber die Teammitglieder außenbords in ihren Tauchbooten sind da wesentlich angreifbarer und müssen dann „rasch“ gesichert, an Bord des Eisbrechers geholt werden. Auf den Meteorologen an Bord der Georgi Schukow lastet eine große Verantwortung - die kleinste Kleinigkeit im Wettergeschehen müssen sie in ihre Vorschau für die nächsten acht plus vier Stunden Sicherheitspuffer einrechnen, so lange dauert das Ablassen der Tauchboote bis zum Erreichen des Ozeanbodens, das Abarbeiten der Experimente und das Aufholen des Teams an Bord der Georgi Schukow. Nun stand ich einen Steinwurf weit entfernt auf der Pier im Hafen von Murmansk vor der Bordwand der Georgi Schukow, die sich wie ein riesiger, unüberwindlicher Stahlberg vor mir und allen anderen Expeditionsteilnehmern aus dem Wasser erhob, in dem sie nahezu unbeweglich wie ein Wal ruhte und alle Maßnahmen an Bord und außerhalb ihres mächtigen Leibes in Gleichmut und Geduld, ja man konnte geneigt sein zu sagen in Gutmütigkeit ertrug wobei sie ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit an die zusteigenden Gäste auf Zeit aussandte, das ihrem Namen und der Erfahrung ihrer Besatzung mehr als alle Ehre machte. Das Hafenwasser quatschte und gurgelte verhalten zwischen der Bordwand der Georgi Schukow und der Betonwand der Kaimauer, wo der Eisbrecher über dicke Trossen an den Pollern festgemacht war. Das Schiff rührte sich keinen Fingerbreit, als würden die leichten Bewegungen des Nordmeerwassers, das ohne Unterlass in die Kola Bucht und den Hafen von Murmansk mit der Flut einströmte, um beim nächsten Gezeitenwechsel, der Tide, ebenso ohne Unterlass abzufließen, keinerlei Einfluss auf den gewaltigen Leib des Schiffes nehmen, welches in stoischer Ruhe auf die Anweisungen des Kapitäns und seiner Mannschaft harrte. Schiffe dieser Größenordnung verlassen einen Hafen niemals ohne Steuerschlepper, dazu ist der Bewegungsspielraum für einen solchen Koloss in einem Hafenbecken zum einen zu gering, zum anderen dient diese Maßnahme primär der Sicherheit der Georgi Schukow sowie der anderen Schiffe und der Sicherheit der Hafeneinrichtungen. Hinter der Hafenzufahrt, die einige Meilen weiter Nordwestlich lag, würden die Bugsierer, die Steuerschlepper, die Trossen von der Georgi Schukow lösen und selbige dann aus eigener Kraft ihrem fernen Ziel entgegenfahren. Der Reaktor war bereits von der Maschinenraum Besatzung auf Viertelkraft angefahren; das reichte vollkommen aus, um alle Systeme an Bord in Betriebsbereitschaft zu nehmen. Zu erkennen war dieser Vorgang an den hellen Dampffahnen, die aus dem hinteren Teil des Brückenbereiches nahe dem Sanitär- und Küchenbereich aufstiegen. Sobald die Besatzung ihr Schiff für die Hafenausfahrt bereit macht, werden die Maschine für die Grundversorgung in den Arbeitsmodus versetzt. Kein Schiff der Welt könnte die Massen an Batterien aufnehmen, um tagein - tagaus die Grundversorgung der schwimmenden Einheit über Tage oder Wochen aufrecht zu erhalten. Bei den traditionell motorisierten Schiffen dienen Batterien der Notversorgung, falls alle Strom erzeugenden Geräte - sprich Generatoren ausfallen sollten. Darüber hinaus dem Funkverkehr bei gleichem Problemfall. Bei den Selbstzündern leitet die Energie aus den Batterien den Startvorgang ein, alternativ die Druckluft aus den Pressluftflaschen. Hat mir mein alter Herr erklärt, der als U-Bootfahrer für Karl Dönitz Schiffe versenkte, bis er selbst zwei Mal versenkt wurde. Aber das nur am Rande. Das alles brauchte die Georgi Schukow nicht, wenngleich die Sicherheit an Bord eines Nuklear betriebenen Eisbrechers in keiner Weise mit den Sicherungsmaßnahmen an Bord eines normalen Schiffes, sei es Fracht- oder Passagierschiff zu vergleichen ist. Die schwimmenden Einheiten der Marine - sprich Militärschiffe, unterliegen wiederum ganz eigenen Sicherheits- und Abschottungsvorgaben, die kaum Bestandteil öffentlicher Fragestellungen geschweige denn Diskussionen sind.
„Ja - ja, so ein Eisknacker hat schon seine Eigenheiten, und wenn man diese Eigenheiten respektiert, damit gefühlvoll umgeht, ist er der beste und zuverlässigste Freund“.
Ganz in Gedanken versunken entlockte ein innerer Impuls meinem Langzeitgedächtnis diese Erinnerung an den Ausspruch von Randy Ballin, der mich auf Tauchfahrt zur Titanic einlud, damals, als wir im Nordatlantik mit der Octopus kreuzten und mit dem Tauchboot zur Titanic hinab glitten. Es war in dieser Region, wo im beginnenden Frühling nach aufbrechen der Packeisfelder Eisberge in allen Größen von der Drift nach Süden geschoben werden - mal mehr, mal weniger. Besonders nachts sind diese grauen Riesen von unberechenbarer Gefährlichkeit, wie es die Titanic im April 1912 zu spüren bekam. Wie heißt es doch in einem Lied -man sieht nur die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Stammt aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht, einem deutschen Theaterdramatiker. Ein schnell fahrendes Schiff, die Wachen im Ausguck unzureichend ausgerüstet - schon ist die Katastrophe vorprogrammiert. Eintausendfünfhundert Menschen fielen diesem Unglück und der Überheblichkeit zahlreicher Verantworlicher zum Opfer, beim Untergang der Gustloff in der Ostsee im Januar 1945 starben sechs Mal so viele - Neuntausend Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Matrosen und verwundete Soldaten. Aber daran war kein Eisberg schuld sondern die Torpedos eines russischen U-Bootes, das auf dem Grund der Ostsee in der Fahrrinne auf der Lauer lag, letztlich aber der verbrecherische Krieg eines teuflischen Diktators der es schaffte, die ganze Welt in einen globalen Krieg ungeheuren Ausmaßes zu stürzen. Die Annalen der Seegeschichte sind randvoll mit Katastrophen, und die Verluste am Menschenleben zählen in die Hunderttausende.
„Weiter - weiter - schnell - schnell - zu den Booten ans Oberdeck“ hallte eine Megaphon Stimme über den Kai und die Hafenanlagen, während auf den Decks eines grauen, düster gestrichenen Schiffes Hunderte - wenn nicht Tausende Menschen wie die Lemminge um und übereinander rannten, trampelten, hetzten, wie entfesselt schrien, nur um zu jenen Booten zu gelangen, die aufgrund der Schräglage des Schiffes gar nicht mehr abgefiert werden konnten. Dieses mir unbekannte Schiff sank, daran gab es keinen Zweifel, und die Menschen auf diesem sinkenden Schiff versuchten sich verzweifelt zu retten, ohne Rücksicht auf jedwedes andere Leben gleich welchen Alters oder Geschlechts. Eisiger Wind fegte Milliarden von Schneeflocken aus dem Nordosten des Kontinents über die aufgepeitschte See, in denen die Schiffbrüchigen in wenigen Minuten den Tod finden würden, um hernach in der endlosen Tiefe zu versinken. Ich verspürte eine Kraft, einen Sog, der mich unaufhaltsam in diese quirlende, tobende Masse nackter Leiber hineinzog, wie ein gefräßiger Riesenkalmar, ein Architeuthis dux von gigantischem Ausmaß, der bereits mehr als die Hälfte des sinkenden Schiffes mit seinen alles zerpressenden Greifarmen umfasst hielt, und aus dessen Innerem die nackten Menschen wie eine teigige, fettige Masse heraus quollen, um hernach im weit geöffneten Schnabelmaul des Kalmaren kreischend und schreiend zu verschwinden. Meine Augen tanzten willenlos in den Höhlen meines Schädels, sie suchten von wahnsinniger Angst getrieben einen Fixpunkt, an dem ich meine irrwitzigen Visionen festmachen konnte - und dann sah ich sie, eine Frau, eine junge Frau, ebenso nackt und weiß wie alle anderen, doch diese Frau wurde nicht von der Masse überquellenden Menschenfleisches in den grässlichen Schlund der Vernichtung gerissen, sondern stand erhaben auf dem Oberdeck des untergehenden Schiffes und drehte nur ihren Kopf von links nach rechts - von rechts nach links, wobei sie die Hand ihres rechten Armes mit erhobenem Zeigefinger vor ihrem Gesicht vorbei bewegte, wie ein knöcherner Scheibenwischer - NEIN - nicht dieses Schiff - es ist das Totenschiff… trug mir der heulende Winterwind ihre warnenden Worte ans Ohr, die leise, kaum hörbar in der Wildheit der Elemente verklangen. Ich kannte diese Frau, war ihr schon begegnet vor langer Zeit. Sie erzählte mir eine Geschichte, so glaubte ich mich zu erinnern, die Geschichte ihrer Jugend von der verlorenen Heimat fern im Osten eines ehemals großen und stolzen deutschen Reiches…. das war - ist - meine Großtante als junge Frau - unmöglich, alles Wahnsinn, ein Albtraum, dennoch konnte ich meinen Blick nicht lösen von diesem Inferno des Untergangs, diesem Dante Inferno, das ich leibhaftig Fleisch geworden vor mir sah, zum Greifen nah. Aber da war noch eine andere Frau, die plötzlich, wie von Zauberhand aus dem eisernen Gewand der Brückenaufbauten erschien, eine Frau in Schwarz, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Ihre glühenden roten Augen fesselten mich mit ihren Blicken, ihr bleiches, knochiges Antlitz überzog für Augenblicke ein flüchtiges Lächeln, derweil ihre fleischlose Hand mir aus ihrem dunklen Umhang leicht zuwinkte und mir bedeutete an Bord zu kommen, die letzte ewige Reise anzutreten in die Refugien der Anderswelt, in das Reich der Göttin Hel nach Helheim…
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