„Wir betreten die Empfangshalle - bitte halten sie ihre Kennkarten gut lesbar in der Hand vor ihre Brust, damit das Einlesen zügig vonstatten geht“ ertönte die glockenhelle Stimme unserer charmanten, russischen Alphawölfin, während meine Augen und Gedanken versuchten, das anmutige Wesen von Sarah Rosenstrauch und den wirklichen Grund ihres Hier seins als Naturwissenschaftlerin, Ozeanographin und Virologin im Dienste der NIOZ auf Texel in den Niederlande zu analysieren. Das übliche Prozedere nahm seinen Gang, das individuelle Small Talk unter den Teammitgliedern an Intensität zu, derweil sich die Akademikerschar wie ein Jugendchor aufgeregter Pennäler schlaksigen Schrittes auf den Kontrollbereich zu bewegte, wo mehrere - in blaue Marinekostüme gekleidete außergewöhnlich hübsche Frauen - ohne Zweifel Murmansker Russinnen, ihre freundlich-dienstlichen Blicke wie Scanner über die Kennkarten der Frauen und Männer gleiten ließen, um sie augenblicklich mit dem lebenden Konterfei und dem Foto auf der vorliegenden Anwesenheits-Bordliste zu vergleichen. Die Qualität der KGB Schule war unverkennbar und ließ mich trotz meiner jahrzehntelangen Erfahrungen im Umgang - nicht nur mit russischen Geheimdienstmitarbeitern - sondern Aufpassern und Aufpasserinnen weltweit immer wieder aufs Neue staunen und dabei doch nicht überrascht sein, denn der Ausbildungs- und Lerneffekt in allen Geheimdiensten und jenen, die sich ausbilden und anlernen lassen, gleicht sich fast wie ein Ei dem anderen, mochten die Systeme in denen sie implantiert sind, noch so verschieden sein, was dem Überwachungswahnsinn auf allen Seiten eine Methode verleiht, die so durchschaubar und transparent ist wie eine frisch geputzte Fensterscheibe. Durch die großflächige Fensterfront auf der anderen Seite der Empfangshalle gewahrten meine Augen im hellen Licht der immer noch hoch stehenden Sonne - es ging gegen immerhin auf 19.30 Uhr zu, und der Auslauftermin für die Georgi Schukow war auf 20.00 Uhr festgemacht. Es würde die ganze Nacht hell bleiben, daran änderten auch die schwarzen Vorhänge vor den Kabinenfenstern nicht das Geringste. Mir kam eine Episode in den Sinn, die ich als junger Mann auf einer Backpacker Safari durch Finnlands Norden - Lappland - erlebte. Ich nächtigte für einige Tage in einem kleinen Dorf der Saami Lappen und erlebte zum ersten Mal hautnah im Hochsommer das Erlebnis der Mittsommernacht, jenes unvergleichlichen Erlebnisses, wenn die Sonne nicht hinter dem Horizont versinkt sondern vierundzwanzig Stunden präsent ist. Schwarze Vorhänge vor den Fenstern sorgten bei mir für ein gehöriges Unwohlsein - vermutete ich doch tatsächlich, dass in diesem Raum kürzlich ein Mensch gestorben ist oder dieses Zimmer im allgemeinen als Aufbahrungs- oder Todeszimmer genutzt wird. Meine Wirtsleute haben sich ausgeschüttet vor lachen und konnten sich kaum beruhigen, bis sie mir dann erklärt haben, was es mit den schwarzen Vorhängen auf sich hat. „Sichtschutz - damit wir schlafen können - Mitsommer - da scheint auch in der Nacht die Sonne.“ So einfach können komplexe physikalische Dinge sein. Und eben durch diese großflächige Fensterfront gewahrten meine Augen eine gewaltige stählerne Masse - versehen mit einem langen roten Band, das irgendwie aus dem Hafenbecken herauswuchs und diesen Stahlkoloss wie eine Schärpe umhüllte, die wiederum in einen mächtigen blauen Leib überging, der von einem weißen, strahlend hellen Aufbau gekrönt wurde und sich wie das Schloss eines Riesen aus diesem Stahlberg erhob - majestätisch, machtvoll, elegant - die Brücke der Georgi Schukow und den darunter befindlichen Decks für die Passagiere und Besatzungsmitglieder. Von Nordwesten hatte die Bewölkung aufgelockert, was nicht nur mir während des Vortrags von Frau Valeria Dernikowa im Saal der Marine aus verständlichen Gründen entgangen war. Die Sonne stand noch hoch im Westlichen Himmel und ließ ihr helles Licht wie einen silbernen Fluss über die Stadt Murmansk, die Kola-Bucht und den Liegeplatz der Georgi Schukow gleiten, was die Konturen der Gebäude, Schiffe und Hafenanlagen in pastellfarbene Gewänder hüllte.
Pariser Baguette - ein schnarchendes Rhinozeros - die Georgi Schukow
„Nicht schlecht Monsieur Bergerdamm, die Russen haben an alles gedacht. Pünktlich zum Auslaufen klart das Wetter auf und beschert uns eine waschechte Mittsommernacht - très bien - je suis Bernard Panteneau vom Institut Louis Pasteur an der Sorbonne in Paris…“
Überrascht von der plötzlichen Ansprache durch Monsieur Panteneau verschlug es mir zunächst eine entsprechende Antwort auf eine derart belanglos-banale Feststellung, und bevor ich mich noch für die Muttersprache meines ungewollten Kabinennachbarn entscheiden konnte, fiel mein Blick eher gewohnheitsmäßig auf das Außenthermometer an der Wand des Empfangssaales, und was ich dort an meteorologischen Daten ablesen konnte, überraschte mich über alle Maßen. Schließlich befanden wir uns hinter dem Polarkreis in der nördlichsten Stadt der Welt, und da waren Temperatursprünge von mehr als zwölf Grad Plus in ein paar Stunden in keiner Weise die Norm. Die Skala signalisierte uns einen Wert zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Grad - etwa 75 Grad Fahrenheit über dem internationalen Nullpunkt. Ich tippte leicht mit dem Mittelfinger auf die Isolierscheibe, aber der Gradmesser bewegte sich keinen Millimeter. Noch ein, zwei Versuche wagte ich, dann gab ich meine Bemühungen auf, eine nach meinem Empfinden passende Temperaturanzeige zu erhalten. Der Luftdruck stieg und näherte sich der 1020 Hekto Pascal Marke, wo normalerweise dieser Wert auf Meereshöhe bei 1013 Hekto Pascal liegt. Das ließ nur einen Schluss zu; ein Azorenhoch vom Zentralatlantik jagte mit Affengeschwindigkeit in Richtung Europa, wobei es die vorgelagerten Luftmassen wie eine Tsunami Welle vor sich her schob. Der Himmel würde sich in rascher Folge mit dicken weißen Haufenwolken füllen, die wie eine Schafherde in Richtung Nordosten rennen und in Verbindung mit der nachströmenden kälteren Luft für extreme Turbulenzen sorgen würden. Da könnte es leicht zu einem Hochdruck jenseits der 1034 Hekto Pascal oder höher führen. Im sibirischen Großraum ist der Gebrauch der Fahrenheit Skalen auch heuer noch weit verbreitet. So ist es nicht ungewöhnlich, dass in Südsibirien im Sommer Temperaturen bis zu 30 Grad herrschen können, was den Bewohnern jener Regionen nicht nur helle und warme Nächte, sondern ebenso Milliarden von Moskitos beschert, die das Leben in diesen Extremzonen nicht unbedingt als angenehm einstufen. Im Klartext lasen sich diese Werte wie zwei aufeinander zufahrende Expresszüge von denen nicht anzunehmen war, dass der jeweils andere seine Geschwindigkeit verringern würde. Entweder klarte es sich tatsächlich komplett auf und wir fuhren in ein klassisches Mittsommerhochdruckgebiet hinein, oder der germanische Donnergott Thor packte seinen Hammer aus und ließ das nordatlantische Meer überkochen, wobei mir beim letzten Gedanken schon jetzt üble Gefühle durch den Bauch krochen. Das von Südwesten her hereinströmende Windfeld muss gewaltige Ausmaße haben, da es die nun rascher am Himmel vorbeiziehenden Wolkenblöcke mit einer Gewalt auseinanderriss, wie ich es in meinem bisherigen Leben auf derartigen Events selten erlebte. In meinen Kolleginnen und Kollegen erwachte nun gleichfalls ein gesteigertes Interesse an den Vorgängen in der Wetterküche über Murmansk und dem nördlichen Eismeer, wobei sich die bedenklichen Bemerkungen mit den euphorischen in etwa die Waage hielten. Aber das könnte sich ganz schnell ändern, wenn die Georgi Schukow erst in freies Wasser einfährt, die offene See erreicht. Die Erinnerungen an meine Kotz- und Würgefahrten auf Großseglern im Südatlantik und der Karibik inmitten tropischer Wirbelstürme stiegen von einem zum anderen Augenblick aus den Windungen meines Hirns empor, ergriffen von meinen visuellen und akustischen Wahrnehmungen Besitz und drängten meine sachlich-fachlichen Beurteilungsparameter gnadenlos in den Grund des Atlantiks. Jene damaligen Erfahrungen klebten an mir, in mir wie bösartige Tumore die nur darauf warteten, ihr Metastasenwerk erneut zu beginnen. Ganz in Gedanken entgegnete ich entgegen meiner Auffassung:
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