Hans-Joachim Grünitz
Eingezogen
Ein Wehrpflichtiger der NVA erinnert sich
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3. unveränderte Auflage
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ISBN 978-3-86935-154-4
Für meine Eltern
Im Oktober vor zwölf Jahren hatte ich per Befehl das letzte Mal offiziell eine Militäruniform zu tragen. Wir haben jetzt wieder Oktober. Es sind die letzten Tage dieses Monats im Jahr 2000 und es ist wohl dem trüben Herbstwetter geschuldet, daß ich mal wieder an meinem Schreibtisch sitze um nun endlich die letzten Zeilen an diesem Buch zu schreiben. Die Armee, deren Uniform ich damals und in Abständen auch Jahre davor trug, gibt es nicht mehr. Auch nicht den Staat, zu dem diese Armee gehörte. Der dem Staat einst geschworene Eid hat keinen Wert mehr. Dennoch meine ich, daß der Alltag im militärischen Leben eines Soldaten bei der Nationalen Volksarmee sowie den Grenztruppen der DDR eine Geschichte wert ist. Eben weil es Geschichte ist und weil Geschichte oft und gern vergessen oder nicht überliefert wird. Natürlich kann dieses Buch nur einen winzigen Ausschnitt, ein ganz kleines Stück dieser Geschichte wiedergeben. Sicher gibt es Menschen, die durch abweichende Erfahrungen eine andere Sicht auf das Vergangene haben. Dieser Bericht verfolgt nicht das Ziel einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern erzählt meine eigene Geschichte, ich hoffe auf unterhaltsame Art, mal satirisch, mal ernst, mal nachdenklich.
Das Jahr 1977 war dazu bestimmt, mir in ewiger Erinnerung zu bleiben. Diese vorwiegend negativ geprägten Erinnerungen verblaßten mit den Jahren. In den Vordergrund drängen sich heute fast nur noch die übrig gebliebenen positiven Eindrücke. So ist das eben, der Mensch verdrängt das Schlechte und ist geneigt, aus seinen Erinnerungen nur noch das Gute zu berichten. Und letzteres geschieht besonders gern in Männerrunden »Gedienter«. Hier werden die tollsten Geschichten zum Besten gegeben und manche Erzählung läßt die Tendenz zur Übertreibung vermuten, so daß der willig Zuhörende wohl hin und wieder am Wahrheitsgehalt zweifeln dürfte. Nicht zweifeln hingegen muß der Leser am Inhalt und Wahrheitsgehalt des nun folgenden Berichtes. Bewußt wird hier von Höhen und Tiefen, guten wie schlechten Seiten einer Zeit erzählt, die immer wieder Erinnerungsstoff bietet: der Militärzeit.
»Musterung«, ein für mein Befinden unwürdiges Wort. Pferde werden ja bekanntlich auch gemustert. Aber gut, heute schreiben wir das der Militärtradition zugute und regen uns nicht mehr sonderlich auf. Die Musterung bedeutete nichts anderes als die Feststellung der militärischen Tauglichkeit, nein, nicht der von Kavalleriepferden, sondern der von jungen Männern. Es war die erste medizinische Untersuchung zu diesem Zweck und fand in der Regel jährlich für die jeweils 18jährigen statt und die wußten schon, was kommen würde. So auch bei mir, im Jahre 1973.
Man hatte einen ganzen Gebäudeflügel in der Betriebspoliklinik frei gemacht. Jeder mußte zwei Ärzte nebst Schwestern über sich ergehen lassen. In diesem Zusammenhang fällt mir immer wieder das wohl auch traditionelle »Hosen runter und bücken« ein. Hätte bis zu diesem Zeitpunkt nie gedacht, daß es das in dieser Form tatsächlich gibt. Man denkt dabei sofort an Hämorrhoiden! Aber in diesem Alter? In meinem G-Buch, dem mich nun immer begleitenden »Gesundheitsbuch« der NVA, ist im Kapitel »Musterung« jedenfalls kein diesbezügliches Wort zu finden. Erst das Kapitel »Entlassungsuntersuchung« nennt einen solchen Eintrag. Könnte das etwa zu der Annahme führen, daß der Armeedienst diesbezüglich förderlich wäre? Um es vorweg zu nehmen, bei mir ist »nein« unterstrichen!
Nun, man wollte wohl nur die Wirbelsäule prüfen und das machte sich in gebückter Haltung mit heruntergelassenen Hosen und in Anwesenheit der Schwester wohl besonders gut. Zum Glück war letztere bereits in gereiftem Alter und hätte meine Mutter sein können. Peinlicher waren dagegen die Fragen des Arztes nach meinem Intimleben. Des weiteren sollte ich ihm die Bezeichnungen diverser Teile meiner Genitalien nennen! Das muß wohl auch der in der Mimik starren Schwester seltsam vorgekommen sein. Ihre Gesichtsfarbe veränderte sich zumindest in Richtung »mehr Blut«.
Was nach dem »medizinischen Teil« kam, war die verbale Attacke, geführt von der Einberufungskommission, die auf Biegen und Brechen einen Längerdienenden, sprich Unteroffizier auf Zeit oder gar Berufssoldaten aus mir machen wollte. Es hat nicht geklappt. Weder die anfänglich väterliche Tour der Offiziere, noch die dann folgende strenge Aufforderung, gerade zu sitzen, verbunden mit der Drohung, man werde mich dann eben erst »sehr spät« und »ganz weit weg von zu Hause« einberufen, konnten mich von einem Dienst, länger als die obligatorischen eineinhalb Jahre, überzeugen.
Auch nicht der unfaire Verweis auf den Beruf meines Vaters. Mein herzensguter Vater, der zu diesem Zeitpunkt noch als Geschichtslehrer arbeitete, hat für mich stets nur das Beste gewollt und mir selbstverständlich die Entscheidungsfreiheit gelassen. Er sollte nun auf Grund seines Lehrerdaseins als ideologische Waffe herhalten. In der Luft schwang, wenn auch nicht direkt ausgesprochen, unmißverständlich die Drohung, daß mein Vater durch meine Unwilligkeit Ärger bekommen könnte. Ganz so weit ging die Macht der Herren nun aber doch nicht. Ich äußerte mich darauf wohl überaus ungehalten, worauf die Einberufungskommission des Wehrkreiskommandos mich in ebenfalls ungehaltener Stimmung entließ.
Einberufen nach Johanngeorgenstadt
Da war er nun, der berüchtigte Einberufungsbefehl zur Ableistung des Grundwehrdienstes. Mit Sicherheit nicht ersehnt und Schrecken verbreitend. Die Zeit bis zum Tag X wurde immer kürzer und dann ging es im Mai 1977 unweigerlich auf die Reise. Ich war zweiundzwanzig und »weit weg« ging es tatsächlich. Mit dem Sonderzug nach Johanngeorgenstadt, zu den »Grenztruppen der DDR«, den Einberufungsbefehl in der Tasche. Ein Sammeltransport ab Cottbus brachte uns Rekruten in professioneller Begleitung etappenweise an die vorbestimmten Ziele. Da gab es einige, die hatten es im Vorfeld schon übers Herz gebracht, den Friseur aufzusuchen. Ich gehörte nicht dazu, meine Haare waren lang, wie es in den Siebzigern halt Mode war. Angetrunken wegen des nun bevorstehenden, waren wir aber einheitlich alle. Dieses sollte eigentlich die Begleitung verhindern. Ein ungleicher Kampf. Die Ernüchterung kam dann aber mit dem Anblick des Kasernentores und dem Schrecken, als dieses hinter uns zukrachte.
Von nun an war für 18 Monate eigenes Denken offiziell gestattet aber praktisch unerwünscht. Es herrschte die Macht des Militärs - der Befehl. Was auch immer ab jetzt getan wurde, für alles gab es das Werk der Werke für den Soldaten: die Dienstvorschrift. Sie regelte einfach alles und so war das mit dem Denken sowieso überflüssig. Und das war auch gar nicht so schlecht, denn wer abschalten konnte, merkte nur gedämpft, was jetzt auf ihn zukam.
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