Und die Hierarchie machte sich auch in den Rechten der Armeeangehörigen bemerkbar. Zum Beispiel durfte nur ein Offizier in der MHO alkoholische Getränke kaufen. Trinken durfte er sie aber innerhalb des Kasernenengeländes nicht. Das war laut Dienstvorschrift grundsätzlich verboten. Grundsätzlich durchzusetzen war das Verbot jedoch kaum. Vor allem die Offiziere und Unteroffiziere begleitete nicht selten nur die »Truppenstandarte«. Obwohl strengstens verboten, war Alkohol ein immer wieder auftretendes Problem. Gelegentlich gelang es auch uns etwas zu schmuggeln. Postpakete, von den Angehörigen verschickt, wurden allerdings vom Hauptfeld immer argwöhnisch geschüttelt. Es hätte ja was gluckern können. Dann war Paketaufmachen angesagt. Die konfiszierten Flaschen bekam man im günstigsten aber seltenen Fall bei Heimreise zurück, im ungünstigsten Fall wurden sie im Beisein ausgekippt und im für den Hauptfeld günstigsten Fall von diesem und seinen eng Verbündeten ausgetrunken. Der Einfallsreichtum, Alkohol zu schmuggeln, war enorm. Aufwendig getarnt, z.B. in Konservendosen oder anderen unauffälligen Verpackungen, oder gar in Paketen mit doppeltem Boden, wurde versucht, die begehrte Flüssigkeit in die Kaserne zu schicken. Der Spieß, oft mit jahrelanger Berufserfahrung, kannte aber auch sämtliche Tricks und es hing von seiner Laune ab, ob er kurz nach Paketausgabe urplötzlich in der Soldatenstube erschien. Ja, es gab auch Zeiten, da konnte man denken, es gelte der Satz »Leben und leben lassen«. Diese Momente waren allerdings recht selten. Und wenn der Schnaps dann doch in den Kehlen der Vorgesetzten verschwand, hätte man sich zwar beschweren können, aber zum einen war der Dienstweg der Beschwerde lang und zum anderen war man ja durch den Besitz des Feuerwassers im Unrecht.
Wie also die kärgliche Freizeit verbringen? Täglich etwa ein bis zwei Stunden waren vorgesehen und die galt es, wie wir im Soldatendeutsch sagten, »abzudienen«. In jeder Kaserne standen sogenannte Klubräume zur Verfügung. Hierin befanden sich etwas bequemere Sitzgelegenheiten, Bücher des sozialistischen Literaturerbes und ein Radiogerät. Die Skalen der Radios, auch der eigenen auf den Stuben, mußten alle an den Stellen markiert sein, wo die DDR- oder andere sozialistische Sender lagen. Denn den Klassenfeind abzuhören war strengstens verboten, wäre man doch so »der politisch-ideologischen Diversion des Gegners« ausgesetzt gewesen, wie es im »Handbuch des Militärischen Grundwissens - NVA Ausgabe« geschrieben stand. Aber ich hatte Glück, in dem Klubraum gab es auch zwei Gitarren und die waren selten belegt. Also zog ich damit in meinen geliebten Wandzeitungsredaktionskellerraum. Dort konnte ich ungestört mittels Gitarre meine Nerven beruhigen.
Gleich neben meinem Kellerraum war das Reich für unsere Kompaniemusikgruppe und den Kompanie-DJ mit seiner Tontechnik. Hier wurden diverse Instrumente strapaziert, kleine Auftritte einstudiert und die sonntägliche Kompaniebeschallung, Disco genannt, vorbereitet. Hin und wieder war also beträchtlicher Krach in den Kellerfluren. Ich hätte mitgespielt in der Band, aber die wollten offensichtlich keinen mehr an ihren Vorteilen teilhaben lassen. Es gab so etwas wie einen Konkurrenzkampf um Vorteile. Aber was soll´s, ich hatte ja meine Wandzeitung zum »Abducken«. Das heißt, hierhin zog ich mich zurück um dem Militär da oben in der Kaserne, wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen.
Viele von uns nutzten die Freizeit zum Briefe schreiben, lesen oder Fernsehgucken. Der Fernseher befand sich in einem speziellem Fernsehraum für Soldaten und war wie die Radios sendermäßig eingeschränkt. Hierzu wurde einfach das DDR-Fernsehen fest eingestellt und das Bedienfeld zur Programmwahl abgedeckt und versiegelt. Die Unteroffiziere hatten einen eigenen Fernsehraum. Ob deren Fernseher auch versiegelt war, oder zwecks »Feindstudium« nicht, konnte ich persönlich nicht feststellen. Ich sah nur manchmal einige wenige ausgewählte, offensichtlich mit Privilegien ausgestattete Soldaten darin verschwinden. Unterschiede zu machen, war in dieser Kompanie ein gern praktiziertes Mittel um den einen oder anderen hervorzuheben und auf diese Weise Kameraden gegeneinander auszuspielen.
Privilegien in größerem Umfang zu genießen, sollte für mich viel später auch wahr werden. Aber noch waren wir in Johanngeorgenstadt und die ersten schlimmsten 14 Wochen ohne Ausgang neigten sich nur ganz langsam dem Ende zu. Nach der Freizeit stand Stuben- und Revierreinigen auf dem Dienstplan. Jeder war für irgend etwas eingeteilt, alles mußte sauber sein bevor der Zapfenstreich folgte. Pünktlich 22.00 Uhr hatten alle in den Betten zu liegen. Die Stubenältesten machten dem UvD noch Meldung: »Stube mit 10 Mann belegt, 9 Mann anwesend, einer im Med-Punkt, Stube gereinigt und gelüftet, zur Nachtruhe bereit.« So oder ähnlich lauteten die einstudierten Meldungen und der eine, der da fehlte und im Medizinischen Punkt oder Lazarett lag, hatte entweder Fieber oder einen Knochen gebrochen, sonst läge er dort nicht.
Das Licht wurde gelöscht, und es hatte Ruhe zu herrschen. Die konnten wir nach dem ausgefüllten militärischem Tagewerk allerdings gut gebrauchen und alle hofften, daß ja kein Nachtalarm unseren Schlaf jäh beendet. Schlaf war sehr beliebt, war es doch gediente Zeit, von der wir nichts mitbekamen. Wer nicht gleich einschlafen konnte, der kam ins Grübeln. Dachte man doch an zu Haus und seine Angehörigen. Einige von uns waren bereits verheiratet, hatten ein kleines Kind, von dem sie nun anderthalb Jahre nur sehr wenig mitbekamen. Ein Umstand, der sogar den Einsichtigsten zum Fluchen auf die Armee veranlaßte. Und ich habe mich oft gefragt, ob es dafür nicht eine andere Lösung hätte geben können. Schließlich befand man sich nicht im Kriegszustand, wenn es uns auf Grund permanenter ideologischer Einflußnahme auch manchmal so vorkam. Draußen, wenige Meter vor meinem Fenster und doch so weit weg, lief das Leben ab. Auf dem Bett liegend, fiel mein Blick oft auf den »Tourist«, eine Urlaubertanzgaststätte, die fast jeden Abend hell erleuchtet war.
Der Zeitpunkt der Nachtruhe wurde nur einmal in der Woche befehlsmäßig nach hinten verschoben, nämlich immer Montag wenn im Fernsehen der »Schwarze Kanal« von und mit Karl-Eduard von Schnitzler gesendet wurde. Für uns eine Pflichtveranstaltung, sollten wir doch durch Herrn von Schnitzler in unserer verordneten sozialistischen Ideologie gestärkt werden. Diese Sendung bewirkte bei den meisten Genossen nur ein müdes Lächeln oder lethargisches Danebenhören, denn selbst die treuesten Genossen mußten feststellen, daß der Mann maßlos überzog und in seinen Argumenten der kälteste Krieger aller Zeiten war. Warum der sein »von« noch nicht abgelegt hatte war geradezu verwunderlich. Eine weitere Pflichtsendung flimmerte jeden Abend um 19.30 Uhr auf uns hernieder. Die »Aktuelle Kamera«, eine im Sinne des sozialistischen Zuschauers geprägte Nachrichtensendung. Leider hatten die von Pressefreiheit noch nichts gehört, denn viele Ereignisse fielen einfach unter den Tisch. Gesendet wurde nur, was ins Weltbild paßte. Unvergeßlich sind die tödlich langweiligen Berichte von angeblicher Planerfüllung in den Betrieben, von Erntekapitänen und ihren Helfern bei der Getreideernte und von Kartoffelvollerntemaschinen. Letztere mußten auch als schön langes Wort für Galgenrätsel herhalten, mit denen wir solche Zeiten zu überbrücken versuchten.
Der Zeitpunkt der Vereidigung der Truppe rückte immer näher. Eines Tages machte der Zugführer, ein Oberleutnant, Einzelgespräche mit jedem Soldaten. Da wir ja zu Grenzsoldaten ausgebildet werden sollten, wollte er unter anderem wissen, wie wir uns bei einer eventuellen Grenzverletzung verhalten würden. Ob wir Hemmungen hätten, die Schußwaffe anzuwenden. Ich sagte ihm ganz klar, daß ich bei einer direkten Bedrohung meiner Person oder meiner Genossen, also aus Notwehr, Waffen anwenden, sie aber in anderen Fällen niemals benutzen würde. Ich würde nicht auf Flüchtende schießen, wie auf Hasen. Ein eventuelles Todesurteil zu fällen, egal aus welchen Gründen auch immer, fühlte ich mich nicht im Recht. Der Genosse Oberleutnant fand das zwar nicht so toll und meinte, es gäbe ja auch subversive Grenzverletzer, die bei uns eindringen würden. Abschließend gab mir mein Zugführer noch zu verstehen, daß sich meine Meinung im Laufe der Zeit schon noch ändern werde, denn zur ideologischen Bildung habe man ja in den Grenztruppen extra ein halbes Jahr Zeit und damit hatte sich der Fall für ihn erledigt. Probleme wollte der anscheinend nicht haben. Ich auch nicht, also lief vorerst alles ganz normal weiter. Allerdings sollte dieses Gespräch nicht das letzte dieser Art gewesen sein.
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