Im Flur nehme ich Franz die durchnässte Jacke ab. »Mama nennt es ihre Dämmerstunden. Manchmal ist ihr noch bewusst, was mit ihr geschieht.«
»Das Wort trifft wohl diesen Zustand sehr gut. Anfangs muss es ein Gefühl sein, als würde man wegdämmern und irgendwann wieder aufwachen, bis dann …« Er hält inne, kratzt sich über die unrasierte Wange.
»Bis man nicht mehr aufwacht und völlige Dunkelheit die Dämmerung ablöst.« Ich habe schnell gesprochen und mir ist bewusst, wie bitter das klingt.
»Haben wir nicht alle manchmal diese Dämmerstunden? Ein Fliehen, wenn wir meinen, es nicht mehr aushalten zu können? Ich jedenfalls kämpfe des Öfteren mit meinen Dämmerstunden.«
Ich ertrage dieses Gespräch gerade nicht und lenke ab. Rufe: »Mama, ich hab Besuch mitgebracht.«
Keine Antwort. Doch dann schiebt sich Mathilda aus ihrem Zimmer, schaut kurz erstaunt, geht strahlend auf Franz zu, streckt die Hand aus.
Der ergreift sie. »Schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Franz Mager und Sie sind Ruths Mutter.«
»Kommen Sie, guter Mann, setzen wir uns ins Wohnzimmer«, Mathilda zieht ihn hinter sich her.
»Ich besorge trockene Kleider.« Die gemurmelten Worte beachten die beiden nicht. Im Schlafzimmer hole ich frische Wäsche, einen Rollkragenpullover und eine schwarze Cordhose aus dem Schrank. Alles Sachen von Papa. Die werden passen, Mager ist so schmal, wie mein Vater zuletzt war. Hocke mich aufs Bett, fühle mich ausgelaugt. Schließe die Augen und meine, nie mehr aufstehen zu können.
»Mama?«
Ich schrecke auf.
Jona steckt den Kopf zur Tür rein. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ja, alles gut. Gleich mache ich Essen. Wir haben Besuch. Sitzt mit Oma im Wohnzimmer. Bitte sei freundlich, auch wenn Franz Mager ein bisschen … na ja, runtergekommen aussieht.«
Jona grinst, verzieht das Gesicht, verschwindet. Ich gönne mir noch ein paar Minuten. Bringe dann die Sachen ins Badezimmer.
Mathilda
Was für ein netter Mann, dieser Franz. Mathilda sagt es sich zum wiederholten Male. Ganz entspannt sitzt er neben ihr auf dem Sofa, redet vom Wetter und wie schwierig es im Herbst und Winter ist, ohne Wohnung zurechtzukommen.
Mathilda ist irritiert. »Sie haben keine Wohnung?«
»Nein, leider nicht. Seit einem Jahr lebe ich auf der Straße. Und Ihre Tochter, sie ist so nett. Hat mir geholfen. Gestern und auch heute wieder. Fast hätte ich eine schlimme Dummheit gemacht, in Ruths Supermarkt.«
Mathilda ist betroffen. Irgendwo wabert eine Erinnerung. Hat Ruth nicht was erzählt von dem unglücklichen Mann? Wie ist noch mal sein Name? »Herr … Herr … entschuldigen Sie, ich vergesse so schnell«, Mathilda spürt, dass sie errötet.
»Mager. Franz Mager. Franz genügt. Aber es ist nicht schlimm, wenn Sie es vergessen. Ich weiß ja, dass Sie mich meinen.«
Wirklich nett ist er, so verständnisvoll.
Sie nimmt seine Hand, »Sie würden auch meine Dämmerstunden verstehen.« Mathilda schließt die Augen, fühlt, wie er ihre Hand leicht drückt.
»Ja, diese Dämmerstunden sind Trost und Qual zugleich.«
Ruth
Franz Mager hat sich im Bad umgezogen, betritt zögernd das Wohnzimmer. »Schläft sie?« Er deutet auf Mama, die mit geschlossenen Augen auf dem Sofa sitzt.
»Ich weiß es nicht. Manchmal ist sie wach und döst nur vor sich hin«, ich stehe auf. »Wollen Sie zum Essen bleiben?«
»Ich glaube, ich gehe jetzt besser. Sie haben schon so viel für mich getan.«
»Nein!« Ein Schrei von Mama, die aufspringt, zu Franz hinläuft und sich an seine Hand klammert. »Sie dürfen nicht gehen, Herr …« Sie schaut von mir zu ihm, schüttelt den Kopf, »Sie wissen schon.« Plötzlich strahlt sie. »Fritz, nicht wahr? Bitte bleiben Sie.«
Franz nickt, setzt sich mit Mathilda wieder aufs Sofa. Hebt die Schultern, als er mich anschaut, eine hilflose Geste.
»Ich mache Essen, bin in der Küche.«
Später, wir sitzen wieder im Wohnzimmer, Jona hat mit uns gegessen, sich in sein Zimmer verzogen, steht Mager auf.
»Dann gehe ich jetzt mal. Sie müssen schlafen. Aber vielleicht darf ich wiederkommen? Mit Mathilda reden, Sie ein wenig unterstützen, Ruth.«
Mama hat den Kopf gegen das Sofakissen gelehnt, die Augen geschlossen. In mir scheint sich plötzlich etwas zusammenzufalten. Ich erinnere, wie Franz mir von seinen Dämmerstunden erzählt und wie sehr mich das berührt hat. Ich denke an die Kälte da draußen und dann an all das, was uns noch erwartet, wenn Mamas Dämmerstunden allumfassend werden.
»Franz …«, ich zögere, »nun, wir haben Zimmer genug. Wollen Sie nicht bleiben? Versuchsweise. Mathilda würde sich freuen. Und ich auch. Ich glaube, es täte uns allen gut. Und Sie hätten ein Dach über dem Kopf.«
Franz hat angefangen, die Hände zu kneten, es dauert, bis er mich anschaut. Ich fürchte, er wird ablehnen. Sein Stolz …
»Sie meinen das ernst? Ja. Das ist so … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Sehr gerne möchte ich Ihnen helfen und für Mathilda da sein.«
»Kommen Sie.« Ich zeige ihm Papas Arbeitszimmer. Die alte Schlafcouch steht noch da. Papa hat sie immer benutzt, wenn er lange gearbeitet hat und Mama dann nicht stören wollte.
»Wir können das Zimmer beizeiten herrichten. Mein Sohn hilft bestimmt.«
»Es ist fantastisch«, sagt Franz.
Nachdem ich ihm Bettzeug gegeben habe, lasse ich ihn allein. Gehe zu Mama ins Wohnzimmer.
Sie ist wach. »Wo ist Fritz?« Irritiert schaut sie mich an.
»Er schläft. In Papas Arbeitszimmer. Und morgen könnt ihr zusammen frühstücken.«
Mathilda lächelt, streicht die grauen Locken aus der Stirn. »Das ist gut. Ja, sehr gut, Ruth.«
Entschuldigung
Manuela Kusterer
Frustriert warf Max Breuer seine Daunendecke zur Seite und setzte sich, die Augen reibend auf den Bettrand. Am liebsten hätte er sich die Decke über den Kopf gezogen und das penetrante Klopfen an der Zimmertür ignoriert. Es war eine dumme Idee gewesen, nach der Trennung von Alicia wieder hier bei seiner Mutter einzuziehen. Seufzend schlüpfte er in die abgenutzte Jogginghose, die er über alles liebte und schlürfte barfuß, mit nacktem Oberkörper, hinaus in den Flur. Erschrocken sah er Sabine, wie er seine Mutter meistens nannte, zusammengekrümmt auf dem Stuhl sitzen, der normalerweise dazu diente, seine gewaschene Wäsche abzulegen, und war plötzlich hellwach.
»Mama, was um Himmels willen ist denn los mit dir? Hast du Schmerzen?«
»Ja, ich habe das Gefühl, dass es mir gleich den Bauch zerreißt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Max, der inzwischen zu ihr geeilt war, strich ihr über den Kopf und sprach beruhigend auf sie ein. »Ich rufe am besten sofort den Rettungswagen.« So sehr ihn Sabine manchmal nervte, so sehr liebte er sie auch. Er wartete noch kurz, ob sie ihm widersprechen würde, denn er wollte nicht voreilig so eine gravierende Entscheidung treffen, wählte dann aber, als keine Einwände kamen, die 112.
Zwei Stunden später saß er im Flur des städtischen Klinikums und wartete ungeduldig auf den Arzt, der seine Mutter gerade untersuchte. Nervös sprang er auf und lief den Gang entlang und wieder zurück. Da öffnete sich endlich die Zimmertür und der Stationsarzt kam auf ihn zu.
Da dieser einen etwas verbissenen Gesichtsausdruck hatte, ergriff Max zuerst ängstlich das Wort: »Gibt es Probleme? Was hat meine Mutter?«
»Wie man es nimmt«, Dr. Stein räusperte sich. »Ihre Mutter hat Gallensteine und das eine ganze Menge. Das ist aber nicht das Problem, sondern die Bauchspeicheldrüse. Sie ist schon etwas entzündet. Im Moment könnte man noch gut operieren, doch wenn die Entzündung fortschreitet, können wir das nicht mehr tun.«
»Und auf was warten Sie dann noch?«, fragte Max gereizt.
»Unser Oberarzt Dr. Sommer würde die Operation sofort übernehmen, Ihre Mutter möchte das aber leider nicht.«
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