1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 Ich nehme sie beim Arm, ziehe sie hoch. Sie geht willig mit mir. Schweigend laufen wir nach Hause. Jona ist noch nicht da. Ich schicke ihm eine WhatsApp-Nachricht, hoffe, er hat sein Handy dabei.
Bin erschöpft, am liebsten würde ich ins Bett gehen. Keine Option, Mathilda muss versorgt werden. Ich bringe sie ins Badezimmer.
»Was soll ich hier, ist doch noch zu früh zum Schlafengehen.« Sie schaut mich an, als sei ich nicht von dieser Welt.
»Du musst warm duschen, Mama, bist ja völlig durchgefroren. So lange, wie du da in der Kälte draußen gesessen hast.«
»Kindchen, in der Buchhandlung war es schön warm, ich habe gelesen und mich dann nett unterhalten. Die haben aber um fünf geschlossen. Wollte noch nicht nach Hause. Deswegen bin ich in den Park.«
Sie ist völlig klar, weiß genau, was sie gemacht hat, das schürt meine Wut. »Und dass wir uns gesorgt haben, ist dir nicht in den Sinn gekommen? Und warum bist du da im Dunkeln noch sitzengeblieben?«
Mathilda senkt den Kopf. Fängt an, sich auszuziehen. »Es tut mir leid, Ruth. Ich hatte wohl wieder eine meiner Dämmerstunden.«
Dämmerstunden, oh ja, und sie mehren sich …
Ich wickle mich auf dem Sofa in eine Decke, das Glas Rotwein steht auf dem Tisch. Den Fernseher habe ich leise gedreht, ihn ganz auszumachen, hätte ich nicht ertragen. Zu still dann, zu sehr das Gefühl, allein zu sein.
Jona hat seiner Oma Brote geschmiert, ungefragt. Muss sein schlechtes Gewissen sein. Alles ist ihm doch nicht gleichgültig. Ich darf ihm das nicht mehr zumuten, dass er auf Mathilda aufpassen muss. Dämmerstunde. So nennt sie es, wenn sie sich wieder nicht erinnert. Manchmal wünsche ich mir auch so einen Zustand herbei, meine eigenen Dämmerstunden, in denen ich vergessen kann. Was, wenn es in Mathilda ganz dunkel wird?
Mathilda
Sie lauscht ins Dunkle, fragt sich, was sie jetzt tun soll. Mitten in der Nacht, wenn alles still ist, so wie oft in ihrem Kopf. Es sind die Tabletten, denkt sie, sie füttern mich damit, dass ich ruhig bin. Die Gedanken sind auf einmal so klar. Sie weiß, was mit ihr geschieht. Auch wenn es schmerzt, will sie diesen Zustand festhalten. Aufstehen, sie muss aufstehen, den Moment nutzen. Ehe sie erneut eine Dämmerstunde einhüllt. Läuft ins Wohnzimmer. Schaltet das Licht an. Soll sie lesen? Oder vielleicht Staub wischen? Ja, dann hätte Ruth weniger zu tun. Die reibt sich doch auf. Mathilda zieht die Schublade im Schrank heraus, verharrt, weiß nicht, was sie braucht. Starrt auf Papiere, Kerzenstummel, Streichhölzer. Öffnet die Schranktür, sieht die Sammeltassen, erinnert sich, dass ihre Schwester die geliebt hat. Warum sind die jetzt hier?
»Mama, was machst du?« Ruth hält ihre Hand fest.
Mathilda schlägt nach ihr, sie hasst es, wenn man sie so hart anpackt. »Ich suche was.«
»Was denn, es ist mitten in der Nacht. Geh zurück ins Bett. Bitte.«
Und wieder diese Dunkelheit. Mathilda denkt an die Sammeltassen und ihre Schwester Klara, strengt sich an, sieht ihr Bild, verschwommen, zitternd, bis es verblasst.
Ruth
Was für ein Mistwetter. Ich laufe durch den Regen, der Wind weht so heftig, dass es mir den Schirm umdreht. Die Kapuze hält die Nässe kaum ab. Hätte doch mit dem Auto fahren sollen, auch wenn es zum Supermarkt nur wenige Straßen sind. Bin noch müde. Nach Mamas Aktion in der Nacht konnte ich lang nicht einschlafen. Wie soll das bloß weitergehen. Meinen Job als Filialleiterin kann ich nicht aufgeben, das Geld brauchen wir dringend. Mamas Rente ist nicht allzu üppig. Chris, mein Ex, ist seit Monaten nicht auffindbar, zahlt nicht und kümmert sich die Bohne um seinen Sohn. Bin ja dankbar, dass ich mit dem Kind, Jona war gerade drei, zu meinen Eltern ziehen konnte. Zumindest die Miete spare ich so, das Haus ist abbezahlt. Dafür hat Papa gesorgt.
Bin keine Minute zu früh am Laden, die ersten Kunden stehen schon vor der Tür. Markus, meine rechte Hand, schließt gerade auf. Zuverlässig ist er, zum Glück.
»Morgen, Markus. Wann kommen die Warenlieferungen? Sind doch heute zwei Fuhren angekündigt.«
»Guten Morgen, Ruth. Ja, leider erst gegen zehn. Wir brauchen dringend das Toilettenpapier. Alles andere eilt nicht.«
Ich genehmige mir im kleinen Aufenthaltsraum einen Kaffee. Setze mich an den Computer und prüfe die Bestellungen.
»Kommst du mal bitte?« Habe höchstens eine halbe Stunde gearbeitet, als Markus den Kopf zur Tür reinsteckt.
»Was ist los?« Nur widerwillig stehe ich auf, mag diese Unterbrechungen nicht.
»Diebstahl«, er verschwindet.
Im Laden, bei den Regalen mit Brotwaren, stehen Markus, Sanne und Kim.
Flankieren einen Typen mit fast schulterlangen fettigen Haaren. Auch die Kleidung sieht nicht sauber und gepflegt aus. Braune Cordhose, ein Norwegerpulli, darüber eine zerschlissene dünne Jacke. Stiefel ohne Schuhbändel. Der Mann ‒ das Alter kann ich nicht schätzen ‒ hält den Kopf gesenkt, hat die Hände gefaltet.
»Er hat das Brot und einen Sandkuchen unter seiner Jacke versteckt.« Sanne hält mir die Ware hin.
Du liebe Zeit, wohl ein Obdachloser, so wie er ausschaut. Und mal keine Schnapsflasche wie öfter bei diesen Menschen. Ob der wirklich Hunger hat?
»Bring ihn in mein Büro«, sage ich zu Markus.
Ich habe ein komisches Gefühl, als der Typ mir da gegenübersitzt. Es ist offensichtlich, dass er sich schämt. Franz Mager heißt er, der Name passt, denn an ihm ist nicht viel dran. Seinen Perso hat er mir gezeigt, ein altes Dokument, verklebt und eingerissen.
»Wo wohnen Sie, Herr Mager?« Als ich die Frage stelle, weiß ich sofort, wie sinnlos die ist.
»Hier und da«, Franz Mager hebt die Schultern, »unsereins hat nur wenige Plätze, an denen es sich leben lässt.« Jetzt schaut er mir in die Augen. Herausfordernd?
»Das tut mir leid, aber dennoch können Sie hier nicht einfach Sachen mitnehmen. Es gibt doch die Suppenküche, wenn Sie Hunger haben …«
Mager hebt die Hand. »Schon gut. Es tut mir leid. Da kann ich erst mittags hin und mir war so kalt.«
Irgendwie rührt mich der Mann.
»Haben Sie gar nichts bei sich?« Normalerweise schleppen doch die Obdachlosen Taschen und Tüten mit sich oder schieben gar Einkaufswagen durch die Gegend.
»Da passt ein Kumpel drauf auf. Ich bin … normalerweise mache ich das nicht. Einfach klauen. Wollte mich ein bisschen aufwärmen, und dann war da der Geruch … kann ich das wiedergutmachen? Oder holen Sie jetzt die Polizei?«
Nicht Bullen, sagt er, seine Sprache ist gepflegt, gutes Hochdeutsch. Der hat mal andere Zeiten gesehen.
Ich fasse einen Entschluss. »Nein. Sie können gehen.« Stehe zeitgleich mit Mager auf.
»Danke«, murmelt er und schlurft zur Tür.
»Warten Sie.« Ich nehme Brot und Kuchen und drücke sie ihm in die Hände. Öffne ihm die Tür.
Eine leichte Röte überzieht sein Gesicht, er streicht sich über die Bartstoppeln. »Wie heißen Sie?« Mit großen Augen schaut er mich an.
»Ruth Jakobi.« Keine Ahnung, warum mir das so schnell rausgerutscht ist.
Die Arbeit geht mir heute nur stockend von der Hand. Meine Gedanken kreisen um Mathilda und immer wieder um Franz Mager.
Mathilda
Das plötzliche Geräusch lässt sie zusammenfahren. Ein helles Schellen, es wiederholt sich. Mathilda weiß nicht, woher es kommt. Aus dem Flur? Sie traut sich nicht nachzuschauen. Ruth müsste doch da sein. Und ihr Enkel, Mathilda erinnert den Namen nicht. Sie fängt an zu zittern. Nimmt den Bilderrahmen vom Nachttischchen. Da ist er noch klein, höchstens fünf. Ein wonniger Kerl, der in die Kamera lacht. Jetzt ist er fast ein junger Mann. Wie heißt er nur? Mathilda schlägt sich gegen die Stirn, mehrmals.
Der schrille Ton hat aufgehört, stellt sie fest. Und da weiß sie plötzlich, dass es das Telefon war.
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