227
Siehe auch S. Breuer , Der Staat, 1998, S. 11 f.
228
R. Hirschl/J. Mertens , Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 105 (106). Für eine stärkere interdisziplinäre Verknüpfung der Rechts- und der Sozialwissenschaft zuvor schon R. Hirschl , Verfassungsrecht und vergleichende Politikwissenschaft – an den Grenzen der Disziplinen, in: M. Hein/F. Petersen/S. v. Steinsdorff (Hrsg.), Die Grenzen der Verfassung, S. 15 ff.
229
R. Hirschl/J. Mertens , Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 105 (123).
230
C. Möllers , Der vermisste Leviathan, S. 113: „Diese Einsicht schließt nicht aus, dass es nach wie vor interessant sein mag, von sozialwissenschaftlicher wie von rechtswissenschaftlicher Seite zu suchen und zu sichten. Gerade die methodischen Einwände gegen eine engere Zusammenführung recht- und sozialwissenschaftlicher Forschung könnten sich jedenfalls aus Sicht der Rechtswissenschaften auf Dauer entschärfen.“
231
C. Möllers , Der vermisste Leviathan, S. 114.
232
Dazu zuletzt B. Oppermann/J. Stender-Vorwachs (Hrsg.), Autonomes Fahren, 2. Auflage 2019.
233
A. Doering-Manteuffel/B. Greiner/O. Lepsius (Hrsg.), Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, 2015.
234
Vgl. auch A. Bogner , Die Epistemisierung des Politischen, S. 98 ff.
235
R. Hirschl/J. Mertens , Interdisziplinarität als Bereicherung. An den Grenzen von Verfassungsrecht und vergleichender Politikwissenschaft, in: J. Münch/A. Thiele (Hrsg.), Verfassungsrecht im Widerstreit, S. 105 (116).
236
Siehe beispielhaft J. Lüdemann , Netzwerke, Öffentliches Recht und Rezeptionstheorie, in: S. Boysen u.a., Netzwerke, S. 266 (275 ff.). Speziell für das Verwaltungsrecht I. Augsberg (Hrsg.), Extrajuridisches Wissen im Verwaltungsrecht, 2013.
237
Vgl. auch C. Möllers , Der vermisste Leviathan, S. 113.
238
Speziell zum unsicheren Umgang der Jurisprudenz mit Fragen der Wirklichkeit A. Voßkuhle , Methode und Pragmatik, in: H. Bauer u.a., Umwelt, Wirtschaft und Recht, S. 171 (185).
239
Knapper Überblick zum Weimarer Methodenstreit bei A. Thiele , Der konstituierte Staat, S. 322 ff.
240
Siehe dazu A. Thiele , Die Europäische Zentralbank, S. 73 ff.
241
Es handelt sich insoweit vor allem um eine deutsche Debatte. Die Rechtswissenschaften in anderen Ländern (nicht zuletzt im angelsächsischen Raum einschließlich Südafrika) greifen zumeist ganz selbstverständlich auf wirklichkeitswissenschaftliche Erkenntnisse zurück.
III. Mangelt es der Allgemeinen Staatslehre an
der notwendigen Problemnähe?
Dem dritten Einwand lässt sich leichter begegnen. Danach fehlt es der Allgemeinen Staatslehre an Problemnähe. Prominent vorgetragen wurde dieser Vorwurf unter anderem von Peter Häberle . Die Allgemeine Staatslehre führe lediglich zu „leeren Abstrahierungen“.[242] Spezifische verfassungsrechtliche Fragen ließen sich mit dieser nicht beantworten, maßgeblich seien allein die konkreten Verfassungen. Dieser Vorwurf trifft gewiss zu. Welche Anforderungen das Demokratieprinzip im Einzelnen stellt, ob ein Gesetz mit Grundrechten vereinbar ist, eine Anti-Coronamaßnahme den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit achtet oder ob das aufwieglerische Verhalten eines US-Präsidenten ein Amtsenthebungsverfahren rechtfertigt, lässt sich unter Rückgriff auf die Ergebnisse einer Allgemeinen Staatslehre nicht abschließend klären.[243] Hier kann nur das Staatsrecht respektive das Verfassungsrecht weiterhelfen.[244] Dieser Vorwurf träfe die Allgemeine Staatslehre freilich |40|nur, wenn sie den Anspruch erhöbe, solche konkreten Fragen zu beantworten. Das ist aber nicht der Fall. Mit anderen Worten: Die Probleme, die die Allgemeine Staatslehre aus Sicht ihrer Kritiker wie Häberle nicht zu lösen vermag, will diese gar nicht lösen. Es geht ihr um etwas anderes; sie erhebt nicht den Anspruch an die Stelle des konkreten Staats- oder Verfassungsrechts im Sinne eines „universellen Ersatzes“ zu treten. Ziel ist vielmehr durch den kritischen, distanzierten und interdisziplinären Vergleich demokratischer Verfassungsstaaten neue Erkenntnisse und Perspektiven zu gewinnen, die es ermöglichen, losgelöst von konkreten Fragestellungen, sozusagen aus der Metaebene, Impulse für die Entwicklung des konkreten Staats- und Verfassungsrechts zu geben. Eine Allgemeine Staatslehre kann damit keine konkreten staats- und verfassungsrechtlichen Probleme lösen, aber argumentatives Rüstzeug für das Sichtbarmachen bedenklicher Entwicklungen und die Bewertung real gefundener Lösungen liefern. „Worum es geht, ist in erster Linie die Konstruktion von Typen; sodann, in zweiter Linie, ihre Verwendung als Skalen, mit deren Hilfe gerade auch die Abweichung, die Distanz erkennbar gemacht werden kann, so dass es weder ein Mangel noch eine Widerlegung ist, wenn eine individuelle historische Erscheinung nur sehr partielle Annäherungen an einen Typus aufweist.“[245] So wird in Deutschland nach der langen Regierungszeit Angela Merkels über eine verfassungsrechtliche Amtszeitbegrenzung des Regierungschefs diskutiert.[246] Eine Allgemeine Staatslehre kann nicht nur aufzeigen, wo entsprechende Begrenzungen bereits bestehen (selten in parlamentarischen, häufig in präsidentiellen Regierungssystemen), sondern auch, welche Vor- und Nachteile damit einhergehen und inwiefern sie mit parlamentarischen Regierungssystemen vereinbar sind. Sie öffnet den Erfahrungsschatz moderner Staatlichkeit für aktuelle Debatten, holt diese aus dem Bereich der Vermutungen und Mutmaßungen heraus und trägt zu deren Rationalisierung bei: „Das Spezifische dieser Disziplin besteht eben nicht in der Ausbildung abstrakt-begrifflicher (Staats-)Definitionen, sondern in der Distanz zu Einzelphänomenen, die vor allem über eine theoretisch angeleitete, typisierende und vergleichende Betrachtungsweise gewonnen wird.“[247] Wäre die Einführung direktdemokratischer Elemente sinnvoll? Wenn ja, warum, wenn nein, warum nicht?[248] Wann ist die Errichtung unabhängiger Verwaltungsbehörden empfehlenswert?[249] Wie lässt sich |41|Verwaltung generell organisieren? Wo liegen Vor- und Nachteile? Wie gehen andere Verfassungsgerichte mit dem Problem ihrer Politisierung um? Um die Beantwortung solcher Fragen geht es. Damit setzt eine Allgemeine Staatslehre keineswegs die Annahme einer „vorverfassten“ oder einer „vorverfassungsrechtlichen Staatlichkeit“ voraus. Dass es letztlich also „nur so viel Staat [gibt], wie die Verfassung konstituiert“,[250] ist eine Aussage, mit der eine moderne Allgemeine Staatslehre problemlos umgehen und die ihr daher nicht als prinzipieller Einwand entgegengehalten werden kann. Im Gegenteil: Weil der Staat eine formbare sozial-normative Konstruktion ist, kann ihr kritischer Blick etwas bewirken.
242
P. Häberle , Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: K. Weber/I. Rath-Kathrein (Hrsg.), Neue Wege der Allgemeinen Staatslehre, S. 29 ff.
243
Siehe auch P. Mastronardi , Verfassungslehre, Rn. 123.
244
Für eine synonyme Verwendung dieser Begriffe C. Möllers , Staat als Argument, S. 429.
245
S. Breuer , Der Staat, S. 12.
246
Dazu auch A. Thiele , Verlustdemokratie, S. 317 ff.
247
A. Voßkuhle , Die Renaissance der Allgemeinen Staatslehre im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 2 (3). Siehe auch M. Weber , Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 202: „Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewusstsein zu bringen.“
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