248
Vgl. A. Thiele , Verlustdemokratie, S. 332 ff.
249
Dazu umfassend zuletzt etwa P. Tucker , Unelected Power, 2018.
250
So P. Häberle , Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, S. 620.
[Zum Inhalt]
|43|C. Zehn Fragen an eine Allgemeine Staatslehre
im 21. Jahrhundert
„Diese Staatslehre, die der Verfasser als Ergebnis einer Bemühung von beinahe 35 Jahren vorlegt, will wahrhaft eine Lehre vom Staat sein.“
Herbert Krüger [251]
„Nach dem Standort und den Aufgaben der Staatslehre zu fragen, scheint bei dem Alter und der Tradition dieser Wissenschaft fast widersinnig zu sein.“
Roman Herzog [252]
„Der Staat ist ein in seiner Komplexität unerschöpfliches Thema.“
Martin Kriele [253]
Wenn eine Allgemeine Staatslehre nicht nur möglich, sondern zugleich sinnvoll erscheint, stellt sich die Frage nach dem Forschungsprogramm, ihren „Aufgaben“. Diese sind, wie Roman Herzog festhält, nicht statisch festgeschrieben, sondern wandeln sich mit den Herausforderungen der Staatenwelt.[254] Was sollte eine Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert umfassen, welchen Fragen an den Staat sollte sie sich widmen? Nach dem Gesagten kann es sich nur um einen subjektiven Vorschlag handeln, einen Debattenbeitrag, der zugleich mögliche Forschungsprojekte skizziert. Formuliert werden zehn Fragen, auf die eine „Allgemeine Staatslehre im 21. Jahrhundert“ Antworten liefern, zumindest Antwortvorschläge machen sollte. Die Fragen werden nicht abschließend beantwortet, sondern lediglich im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Allgemeine Staatslehre umrissen. Die ersten vier Fragen behandeln die Grundlagen und beleuchten das Phänomen moderner Staatlichkeit an sich; sie fallen in ihrer vorläufigen Beantwortung kürzer aus. Ab der fünften Frage rücken die Charakteristika und die Struktur des |44|demokratischen Verfassungsstaates in das Zentrum der Betrachtungen – die Antworten werden länger.
251
H. Krüger , Allgemeine Staatslehre, Vorwort S. V.
252
R. Herzog , Allgemeine Staatslehre, S. 15.
253
M. Kriele , Einführung in die Staatslehre, S. 1.
254
R. Herzog , Allgemeine Staatslehre, S. 15.
I. Was ist der „moderne Staat“ und wie ist sein
Verhältnis zur Gesellschaft?
1. Der moderne Staat als Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre
Den zentralen Gegenstand der Allgemeinen Staatslehre bildet der moderne Staat. Damit ist allerdings noch nicht geklärt – es wurde angedeutet –, was den modernen Staat kennzeichnet, diesen aus historischer Perspektive von nicht-modernen Formen von Staatlichkeit früherer Hochkulturen unterscheidet. In dieser Frage besteht keine Einigkeit, weder im Hinblick auf die zeitliche und örtliche Einordnung der Entstehung des modernen Staates, noch auf die konkreten historischen Wesensmerkmale, die diesen charakterisieren.[255] Dieser Disput wird entschärft, wenn man sich das Prozesshafte der Entwicklung und die Abhängigkeit der Einordnung von der eigenen Staatstheorie in Erinnerung ruft. Der Staat entstand nicht in Form einer eruptiven Entladung aus den vormodernen Herrschaftssystemen und war plötzlich „da“. Die Suche nach einem konkreten Entstehungsdatum erscheint insofern wenig sinnvoll, angeben lässt sich allenfalls eine zeitliche Periode, in der sich der moderne Staat allmählich herausbildete. Es geht um einen schleichenden und Jahrhunderte dauernden Prozess, der zudem in unterschiedlichen Regionen in unterschiedlicher Intensität und mit unterschiedlichen Schwerpunkten ablief – noch im heutigen Staatensystem spielen diese Pfadabhängigkeiten eine Rolle und werden auch bei konkreten Problemlösungsstrategien immer wieder sichtbar. Die einzelnen historischen Wesensmerkmale, die man bei der Betrachtung dieser Periode als maßgeblich erachtet, sind zudem von den eigenen Vorstellungen über das „Wesen“ des Staates, von der eigenen „Staatslegende“ abhängig. Daraus folgt erstens, dass es ebenso erwartbar, wie unschädlich ist, dass sich die gefundenen Merkmale in den Details unterscheiden. Wichtig ist, die eigenen Ergebnisse nicht absolut zu setzen, sondern nur als ein mögliches Verständnis, ein denkbares Szenario in den Staatsdiskurs einzustellen. Zweitens ergibt sich daraus, dass die begriffliche Debatte zu keinem Zeitpunkt als abgeschlossen angesehen werden kann. Der Begriff des modernen Staates ist in seiner historischen Fundierung (schon aufgrund neuer Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft, der politischen Anthropologie etc.) ebenso wandelbar, wie sich die heutige Staatenwelt permanent wandelt. Die historischen Wesensmerkmale des modernen Staates |45|sollten daher in all ihrer Offenheit auch in Zukunft zentraler Forschungsgegenstand der Allgemeinen Staatslehre bleiben.
Vor diesem Hintergrund sollte die Entstehungszeit des modernen Staates – im Einklang mit der überwiegenden Ansicht in der Literatur[256] – in die europäische Neuzeit verlegt werden.[257] Um möglichen Missverständnissen sogleich zu begegnen: Damit soll weder behauptet werden, dass es keinerlei außereuropäische Staatsentwicklungen gegeben hätte oder dass die Herrschaftsstrukturen dort „unmodern“, „unpolitisch“ oder gar „unzivilisiert“ gewesen seien, wie dies zur Zeit der Kolonialisierung dieser Gebiete ab dem 16. und bis ins 20. Jahrhundert oftmals geschehen ist.[258] Das Gegenteil ist richtig und die Integration der neueren Erkenntnisse über die vielfältigen historischen und keineswegs unpolitischen frühen (segmentären und tribalistischen) Gemeinschaften in Amerika, Afrika, Asien, Australien und Neuseeland in den modernen Staatsbegriff sollte stärker betrieben werden als bisher. Gleichwohl zeigt sich im Europa der Neuzeit eine Entwicklung, die zumindest für die Herausbildung des heutigen Staatensystems – es besteht mittlerweile praktisch ausschließlich aus Nationalstaaten europäischer Art, wie sie sich zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausgebildet haben – prägend war und die sich in dieser Form auf den anderen Kontinenten in dieser Dichte nicht ereignet hat. Die Entdeckung der Vernunft, die gesellschaftlichen und technischen Neuerungen[259] leiteten signifikante Veränderungen der bestehenden Herrschaftsstrukturen ein. Diese verdichteten sich in der Folge, um sich sodann durch Kolonialisierung und „Selbstverwestlichung“[260] auf dem gesamten Erdball zu verbreiten[261] und im Anschluss an die im 20. Jahrhundert (formal) abgeschlossene Dekolonialisierung zum weltweiten „Staatsstandard“ zu mutieren. Erneut sei aber betont: Auch diese Ausbreitungsgeschichte ist in all ihren Facetten noch nicht |46|erzählt[262] und darf nicht die signifikanten Unterschiede negieren, die in den einzelnen Weltregionen schon aufgrund der vielfältigen Kolonisierungsformen und unterschiedlichen lokalen Herrschaftstypen bis heute bestehen. Hier bleibt – nicht nur, aber vor allem – auf dem afrikanischen Kontinent mit seinen komplexen vorkolonialen tribalistischen Herrschaftsformen außerordentlich viel zu tun.[263] Dass diese Zeit Auswirkungen auch auf die heutige Situation hat, zeigt die Auseinandersetzung der deutschen Bundesregierung mit den Herero und Nama im heutigen Namibia (ehemals Deutsch-Südwestafrika) über eine Entschädigung, aber auch über eine angemessene Erinnerungskultur[264] für die grausamen Gewalttaten bis hin zum Völkermord, die ihnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts von deutschen Kolonialherren angetan wurden.[265] Generell ist im 21. Jahrhundert in vielen ehemaligen Kolonialstaaten eine neue Verantwortungsdebatte entstanden, die sich nicht allein auf die Frage der Rückgabe (in der Regel geraubter)[266] kolonialer Kunstschätze reduzieren lässt, sondern auch allgemeine Fragen der Staatlichkeit umfasst.[267]
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