TOORAG
Die Jack Schilt Saga
Episode 2
Michael Thiele
Roman
Deutsche Erstveröffentlichung, April 2016
Copyright © 2016 by Michael Thiele
All rights reserved
Lektorat/Korrektorat: Marlies Bhullar
Umschlaggestaltung: Michael Thiele
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SENTRY – Die Jack Schilt Saga (Episode 1)
Prolog
„Ich weiß nicht, ob das, was ich hier niedergeschrieben habe, jemals in die Hände anderer Menschen gelangen wird. Ich bezweifle es, denn seit vielen Jahren bin ich keinem anderen Vertreter meiner Rasse mehr begegnet. Ich überlasse es also dem Zufall, was mit meinen Aufzeichnungen, meinen Erinnerungen, geschieht. Ich würde mir sehr wünschen, dass meine Aufzeichnungen irgendwann einmal, wenn sich der dunkle Mantel des Vergessens über den Staub der Jahrhunderte gelegt hat, dazu beitragen, die Verdienste der anständigen Menschen dieser Welt zu würdigen und am Leben zu erhalten.“
Jack Schilt
Stoney Creek, Avenor
Im Frühjahr des Jahres 700
Manchmal, wenn ich die vom Zahn der Zeit mächtig angefressene Chronik meines Vaters in den Händen halte, fühle ich, wie mein Leben einen Moment innehält. In Ehrfurcht? In Traurigkeit? Ich weiß es nicht, kann es nicht mehr einordnen, zu lange liegen die Ereignisse des Jahres 700 zurück, als dass ich mich noch klar erinnern könnte. Stets stiehlt sich ein Lächeln in meine Züge, wenn ich die Datumsangabe auf der ersten Seite seiner umfangreichen Niederschrift sehe. Mein Vater hatte sich selbst zu jener Nachlässigkeit geäußert, als er leichtfertig aus Unkenntnis kurzerhand das Jahr 700 erfand. Wie hatte er noch geschrieben? „Luke wäre aufgrund meiner gleichgültigen Ungenauigkeit erzürnt gewesen. Doch da es keine Möglichkeit mehr gab, ein genaues Jahr auch nur ansatzweise zu rekonstruieren, beließ ich es bei jener groben Schätzung.“
Wie viele Male hatte ich mich schon in seinen Aufzeichnungen verloren? Ich traute es mir zu, sein Leben auswendig hersagen zu können, so oft und intensiv war ich schon in den vielen Seiten versunken gewesen. Womöglich war es auch das Wissen, sein Vermächtnis nicht für ewig erhalten, seinen Verfall nicht für alle Zeiten aufhalten zu können, welches mich dazu antrieb, jeden Satz, ja jedes Wort, zu verinnerlichen.
So auch heute.
Wieder einmal holte ich das Bündel loser Blätter aus gesiebtem Flachspapier hervor (ich hatte keine Ahnung, wie man Papier herstellte und kannte diesen Namen auch nur, weil mein Vater ihn in seiner eigenen Chronik erwähnt hatte). Ein gewisser Luke, Luke Eastley um genau zu sein, war wohl in der Lage gewesen, besagtes Papier zu fabrizieren, eine Fertigkeit, die ich gerne erlernt hätte. Von ihm stammten auch jene Seiten, auf denen mein Vater sein Leben niedergeschrieben hatte. Dem Himmel sei Dank dafür. Wäre er nicht gewesen, wüsste ich heute nicht einmal, einen Vater gehabt zu haben, geschweige denn irgendetwas über sein Leben.
Luke Eastley, ich weiß so viel über dich, du könntest mein eigener Bruder sein. In gewisser Weise fühlte ich mich ihm nahe, viel näher als Krister Bergmark, Lukes Stiefbruder, einem weiteren Protagonisten, der eine Hauptrolle im Leben meines Vaters gespielt hatte. Jener Luke war unzweifelhaft ein Naturliebhaber gewesen, von sanftem Gemüt, eher zurückhaltend und gedankenvoll als aufbrausend und impulsiv wie Krister. Ja, Luke Eastley war zweifellos meiner Natur sehr nahe gewesen.
Ohne Frage fühlte ich mich natürlich mit meinem Vater am engsten verbunden. Ihn nie kennengelernt zu haben, zähle ich noch heute, so viele Jahre später, zu einem der größten Missgeschicke meines Lebens. Denn um ein Haar wäre es so gekommen. Ein ganzes Leben lang hatte ich ihn vermisst, wusste nur aus den Erzählungen meiner Mutter wie er war, wie er aussah. Er, der am Ende der Alten Zeit in ihrem kleinen Dorf mit dem hübschen Namen Kellswater aufgetaucht war und ihr Herz gefangen nahm. Nur wenige Tage waren ihnen vergönnt gewesen. In diesem kurzen Zeitraum entstanden meine Zwillingsschwester Ylvie und ich.
„Warum ist er nicht bei dir geblieben?“ hatte ich Mutter oft gefragt. Ich konnte nicht verstehen, wieso er sie wieder verließ, sie, die ihn bis ans Ende ihrer Tage tief im Herzen aufbewahrt hatte.
„Er war auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder, deinem Onkel Rob, gewesen, hatte meine Mutter stets zur Antwort gegeben. „Er wäre geblieben, hätte er nicht geschworen, ihm zur Seite zu stehen, komme was wolle.“
„Also war die Liebe zu ihm größer als zu dir?“ wollte ich wissen.
„Es gibt keine große und kleine Liebe“, hatte Mutter geantwortet. „Wer dies behauptet, weiß nicht was wahre Liebe ist.“ Ihr Blick war dabei mitfühlend an mir haften geblieben, wusste sie doch damals schon sehr wohl, mir niemals sagen zu können, dies eines Tages selbst herauszufinden. Ylvie und ich waren die einsamsten Kinder gewesen, die man sich vorstellen konnte.
Außer uns dreien, meiner Mutter und meiner Schwester, lebten nur dreizehn weitere Menschen auf Evu, unserer Insel, die aus den unterschiedlichsten Regionen Gondwanalands stammten. Acht Frauen und fünf Männer ähnlichen Alters. Sie waren einander völlig unbekannt bis zu dem folgenschweren Tag, an dem sie sich alle, genau wie meine Mutter, auf Evu wiederfanden. Nur eines war ihnen gemein: die Erinnerung an eine leuchtende Glocke, eine pulsierende Luftblase, die sie umschlossen und aus ihrem alten Leben gerissen hatte. Auch Vater hatte jene Blase beschrieben, die ihn und seine beiden treuen Begleiter Krister Bergmark und Luke Eastley schützend umfasst und vor dem Untergang bewahrt hatte, damals am Ende der Alten Zeit. Anders als wir, waren sie nicht nach Evu gebracht worden, sondern durften in ihre alte Heimat Avenor, am nordöstlichsten Zipfel Gondwanalands, zurückkehren.
Wir wuchsen als einzige Kinder unter vierzehn Erwachsenen auf unserer kleinen Insel heran. Wenig erinnere ich mich an diese Zeit, womöglich weil sie so ewig lange zurückliegt. Sechzehn Menschen besiedelten einst Evu, wenn auch nicht für lange Zeit. In den ersten Jahren schon starben vier der fünf Männer an rätselhaften Krankheiten. Bevor Ylvie und ich unsere ersten zwanzig Lebensjahre vollendet hatten, lebten nur noch meine Mutter und zwei weitere Frauen, Linda und Maddie. Ich erinnere mich nur noch vage an die beiden, die wir als Tanten betrachtet hatten und welche im Laufe ihres kurzen Lebens je ein Kind zur Welt brachten. Totgeburten, wie wir erfuhren, grausam entstellt, mit merkwürdig geformten Gliedmaßen, die eher einem Insekt als einem Menschen glichen. Die beiden Missgeburten veränderten sowohl Maddie als auch Linda grundlegend. Aus den freundlichen, lebenslustigen jungen Frauen wurden unglückliche, gramgebeugte Wesen, die früh mit ihrem Leben abgeschlossen hatten. Zudem alterten Maddie und Linda schnell, viel schneller als unsere Mutter. Mit ihrem Tod wurde es sehr ruhig auf der Insel. Die kleine Kolonie auf Evu war früh zum Aussterben verurteilt.
Meine Schwester und ich entwickelten uns prächtig, wir strotzten nur so vor Leben, ganz anders als der Rest der kleinen Inselbevölkerung, der innerhalb weniger Jahre unwiederbringlich dahinschwand. Mit dem Ableben unserer geliebten Mutter waren wir schlussendlich alleine auf uns gestellt. Evu bestand nur noch aus mir und meiner Zwillingsschwester Ylvie.
Wenig hielt mich noch dort. Wissend, dass es da draußen Festland gab, eine riesige Landmasse namens Gondwanaland, wollte ich nur noch eines: dieses Gebiet erforschen. Irgendwo mussten sich noch Menschen aufhalten, Ylvie und ich konnten doch nicht die letzten unserer Art sein!
Mit dem Tod meiner Mutter fühlte ich mich nicht mehr an das Versprechen gebunden, niemals Gondwanaland zu betreten. Ich hatte ohnehin zu keiner Zeit verstanden, weshalb sie es mir abgerungen hatte. Doch gingen noch Monate ins Land, bis ich mit Hilfe eines selbstgebauten, klapprigen Ruderbootes die Herausforderung annahm. Ylvie weigerte sich standhaft, mitzukommen. Ihre Angst vor der Tethys, vor dem weiten, tiefen Meer, erwies sich stärker als die Verbundenheit zu mir. Ich musste ihr versprechen, so bald wie möglich wiederzukommen. So startete ich die Reise ins Ungewisse, ganz allein auf mich gestellt. Doch war ich mir in meinem jugendlichen Elan absolut sicher, in Kürze wieder vor ihr zu stehen. Der Abschied fiel schwer und ich musste mich zwingen, die lange gehegten Pläne endlich in die Tat umzusetzen. Noch heute sehe ich meine winkende Schwester mitsamt der Küste Evus am Horizont verschwinden, während ich mich auf den Weg nach Gondwanaland machte. Nie hatte ich daran gezweifelt, es nicht zu schaffen. Die Meerenge zwischen Insel und Festland, an der engsten Stelle nur knapp fünfzig Meilen breit, überwand ich in erstaunlich kurzer Zeit und stand schließlich an den Gestaden des fremden und doch eigenartig vertrauten Kontinents. Ich hatte das Festland erreicht und damit das Versprechen gebrochen, dies niemals zu tun.
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