Entgegen aller Überzeugung machte ich einen Schritt nach vorn. Mit geöffneten Armen stand meine Mutter vor mir, bereit, mich zu empfangen. Da gab es kein Halten mehr. Wie ein verängstigtes Kind floh ich in ihre Umarmung. In diesem Moment war ich wieder ihr kleiner Junge. Alle Ängste fielen von mir ab. Wie sicher ich mich fühlte, behütet und geborgen, als könnte mir nichts auf der Welt etwas anhaben! Viele Jahrzehnte waren vergangen, seit ich sie zum letzten Mal berührt hatte.
Eine tiefblaue Träne löste sich aus ihrem linken Augenwinkel. Sie seufzte: „Wie lange ist es her! Wie lange!“
Aus großen, bewundernden Augen sah ich sie an. „Viel zu lange!“
Ich sah zu meinem Vater hoch, wollte ihn in diesen einzigartigen Moment mit einbeziehen, bevor der Traum ein Ende fand. Der dunkle Hintergrund der Hütte verwandelte sich in eine spiegelnde Fläche, unvermittelt sah ich mich vor meinen eigenen Eltern stehen, die Mutter weiterhin umarmt haltend. Aus himmelblau leuchtenden Facettenaugen erblickte ich mein eigenes Spiegelbild.
Ich hatte die Augen meines Vaters angenommen!
Entsetzt schlug ich beide Hände vors Gesicht, glaubte, den Anblick nicht ertragen zu können. „Was ist mit mir?“ stöhnte ich fassungslos. Ich war zu einem Monster mutiert!
„Vergiss niemals, wer du bist!“ hörte ich meinen Vater mahnen. „Sieh uns an! Sieh uns genau an!“ Zu dritt betrachteten wir einander im Spiegel. Die Augen meiner Mutter waren die einzigen, die noch denen eines Menschen ähnelten. Am liebsten wäre ich diesem Alptraum entflohen. Doch war er noch nicht gänzlich beendet.
„Wer bin ich?“ stellte ich die alles entscheidende Frage.
Mein Vater sah mich ernst an und nickte. Es wirkte anerkennend. Plötzlich erschienen mir seine Facettenaugen gar nicht mehr abscheulich. Eine Antwort auf meine Frage gab er allerdings nicht.
„Weshalb hat Ylvie deine Augen, Mutter, und ich die Augen von Vater?“ Ich versuchte es bei ihr, doch auch sie nickte nur wohlwollend. Es genügte mir. Ihre Arme um mich zu wissen, war alles, was ich augenblicklich wollte.
Dann war das Traumbild vorbei. Weiterhin verständnisvoll lächelnd, lösten sich meine Eltern wie Geistererscheinungen vor mir auf. Mit ihnen verschwand auch Ylvie, die kein einziges Wort gesagt hatte, verschwand die Hütte, verschwanden das Meer und die grünen Wiesen.
Nur eines blieb.
Die Grabeskälte.
Beißender als je zuvor.
Während der Zeit meiner Gefangenschaft mochte ich vieles zusammenfantasiert haben, doch nur die Erinnerung an diesen einen Traum blieb mir im Gedächtnis haften. Dies und die immerwährende, qualvolle Kälte. Mein Erwachen erschien mir wie die zögerliche Rückkehr aus einer anderen Dimension. Die frostigen Temperaturen waren fort, dennoch fühlte sich mein ausgekühlter Körper an wie der sprichwörtliche Eiszapfen. Einmal war ich überzeugt, zu ersticken, hörte mich selbst röcheln, doch verging diese unangenehme Empfindung zügig. Ich atmete, ganz eindeutig. Merkwürdig, sich über die normalste aller Körperfunktionen derart Gedanken zu machen. Die unbeschreibliche Ahnung, für lange Zeit nicht geatmet zu haben, jagte mir beispiellose Angst ein. Wie kam ich darauf? Absurd!
Als nächstes kehrte mein Sehvermögen zurück, überaus zaghaft, als traute es seiner eigenen Wahrnehmung nicht über den Weg. Schlieren violetten Nebels. Eine Sinnestäuschung, sicherlich. Wo war ich? Anfangs hatte ich das Gefühl, wie leblos in einem indigofarbenen Meer zu treiben, alles um mich herum ruhte in sanfter, wellenartiger Bewegung. Nach und nach gewann mein Augenlicht an Schärfe. Die Erinnerung kehrte zurück. Ich steckte weiterhin in jener gläsernen Hülse, welche jedoch ihre Transparenz weitgehend verloren hatte. Von außen drang violettes Licht ein wie durch einen Nebelschleier. Dann erst realisierte ich die mit Wasserdampf beschlagenen Wände. Und – oh Wunder – mein Körper gehorchte mir wieder. Zwar wirkten meine Bewegungen noch abgehackt, doch gelang es mir unter Aufbietung beträchtlicher Willenskraft den rechten Arm zu heben und die Außenwand meines Gefängnisses zu berühren. Mit dem Zeigefinger malte ich einen Sichtschlitz durch die Nebelwand. Grelles Licht stach mir daraufhin in die Augen, sodass ich sie schützend schloss und so schnell nicht wieder öffnen wollte.
Erst als warme Luft von oben auf mich herabfiel, schlug ich sie wieder auf und blickte hoch. Nichts zu sehen. Zwar schmerzte das grelle Licht weiterhin, doch ignorierte ich den Schmerz, die Lider eisern geöffnet haltend. Irgendetwas ging vor sich, und ich wollte wissen, was.
Binnen kurzem löste sich das Kondenswasser im Innern der Hülle in Nichts auf und ich konnte ungehindert nach draußen blicken. Fassungslos blickte ich auf Dutzende weiterer Glashülsen, in Reih und Glied aufgestellt, eine an der anderen. Doch das war es nicht, was mich derart erschauern ließ.
In jeder Hülse steckte ein gefangener Mensch!
Ich benötigte Zeit, das Gesehene wirken zu lassen. Noch nie in meinem bisherigen Leben war ich anderen Menschen begegnet, die wenigen Ausnahmen in der Kindheit ausgenommen. Nach dem Tod meiner Mutter gab es nur noch mich und meine Schwester Ylvie, niemanden sonst. Jahrzehntelang hatten wir zu zweit in Abgeschiedenheit mehr oder weniger dahinvegetiert, stets davon überzeugt, die letzten unserer Art zu sein. Bestätigt sah ich mich in dieser Annahme, als ich in den Besitz des Tagebuchs meines Vaters gelangte. Gondwana, meine Heimat, einst von Tausenden Menschen besiedelt, war nach dem Sieg meines Vaters – dem (damals) letzten Sentry – über die Ar-Nhim, wieder befreit von allem fremden Leben. Lange Zeit hatte ich gerätselt, wieso ausgerechnet meiner kleinen Familie und einigen wenigen anderen ein Überleben auf Evu gestattet worden war. Erst als ich realisiert hatte, genau wie mein Vater einen Ermeskul – auch Sentry genannt – in mir zu tragen, flutete Licht in das dunkle Geheimnis. Ohne jemals mit ihm kommuniziert zu haben, vermittelte er mir die Wahrheit. Ich wusste bereits, dass skrupellose Menschen, sogenannte Wissenschaftler, schwere Schuld auf sich geladen hatten, als sie Genmaterial der Ermeskul in menschliche Versuchskaninchen schleusten. Das Experiment verlief unbefriedigend und war irgendwann ergebnislos abgebrochen worden. Niemand konnte jedoch ahnen, wie viele Generationen es benötigte, um die fremden Gene zu aktivieren.
Erst Jahrhunderte später ging die Saat auf!
Mit unerwartetem Effekt!
Wie viele Menschen sich den Testreihen unterziehen mussten, kann wohl niemand mehr genau sagen. Einer meiner Vorfahren musste jedoch zweifellos unter ihnen gewesen sein. Er gab die Gene an die folgende Generation weiter, und der an die nächste, bis sie bei meinem Vater ankamen und dort erstmals skurrile Früchte trugen. Jack Schilt, mein Vater, war der erste gewesen, in dem ein Ermeskul, ein Sentry, erwachte. Und wie es aussah, auch der einzige auf dem ganzen verfluchten Planeten, dem dies widerfuhr. Die anderen unfreiwilligen Erben, jene acht Frauen und fünf Männer, die mehr oder weniger lang mit uns auf Evu lebten, zählten zu den letzten Nachkommen derer, an denen ebenfalls Versuche vorgenommen worden waren. Auch über sie hielten die Ermeskul ihre schützende Hand. Sie durften nach dem Ende der Menschheit auf Gondwana bleiben und ihr Leben auf Evu aushauchen. Welche ermeskulartigen Fragmente auch immer in ihnen gehaust hatten, es musste Grund genug gewesen sein, ihr Leben zu schonen. Lediglich meine Mutter hatte mit alldem nichts zu tun. Sie war der einzige ursprüngliche Mensch auf Evu gewesen. Die Tatsache, mit mir einen weiteren Sentry geboren zu haben, verhalf ihr wohl zu diesem zweifelhaften Privileg. Sie war gestorben, ohne je zu ahnen, welches Monster sie in die Welt gesetzt hatte.
Mich!
Das Wissen, mich im Beisein vieler anderer Menschen zu befinden, trug etwas merkwürdig Beruhigendes in sich. Ich war nicht allein! Mit jeder Minute, die verging, löste sich dieses trügerische Gefühl jedoch auf und schlug ins Gegenteil um. Wir Gefangenen blickten einander aus weit aufgerissenen Augen an, von einer abgeschotteten Glaskapsel zur anderen. Panik, Entsetzen und Todesangst lag auf den Gesichtern meiner Mitgefangenen. Soweit ich sehen konnte, handelte es sich um Männer jeden Alters, junge, ergraute, greise. Woher kamen sie? Was hatten sie angestellt, um hier an Bord dieses teuflischen Schiffes zu geraten?
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