Mir fiel das ungewöhnliche Lebewesen wieder ein, welches ich an Bord des Raumschiffes gesehen hatte. Unzweifelhaft gesehen hatte! Das war kein Mensch gewesen! Ganz gewiss nicht! Es hatte sich frei bewegt, während wir Menschen wie Vieh zusammengepfercht in diesen Glashülsen steckten. Die Rollenverteilung war damit klar: Meinesgleichen befand sich nicht wirklich in tonangebender Position. Nein, den Ton hatte unmissverständlich jenes bizarre Geschöpf angegeben, eine mir unbekannte Lebensform, von denen es, wie ich aus Vaters Tagebuch wusste, im grenzenlosen Universum nur so wimmeln dürfte. Wir Menschen waren nur ein winziger Teil des immens großen Ganzen. Und dennoch war es uns innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit (was bedeuten schon einige wenige Jahrhunderte im Vergleich mit der Ewigkeit?) gelungen, mit ihnen in Konflikt zu geraten. Zumindest auf Gondwana. Keine Ahnung, wie es meiner Rasse anderswo ergangen war. Die Tatsache, von einem Vertreter einer mir fremdartigen Zivilisation sang- und klanglos verschleppt worden zu sein, stärkte mein Vertrauen in die Autorität der Menschen nicht unbedingt. In dieser Welt hier herrschten jedenfalls andere. Wenn es sich also um Vestan handelte, hatte der Mensch offensichtlich nicht mehr viel zu sagen, führten andere das Kommando. Keine angenehme Vorstellung. Das Ausmaß all dessen, was mir soeben widerfuhr, ließ sich nicht einmal ansatzweise erahnen.
Von plötzlichem Schwindelgefühl erfasst, sank ich in die Knie, die Augen ein weiteres Mal hilfesuchend nach oben gerichtet. Was erwartete ich zu sehen? Das Raumschiff etwa? Wahrscheinlich. Ich hoffte, es würde zurückkehren, mich wieder aufnehmen und nach Hause bringen.
Die milchige, totenblasse Scheibe eines riesigen Mondes spitzte zwischen den rapide dahinziehenden Wolken hindurch. Kein Zweifel, der für einen Wimpernschlag fahlrot aufleuchtende Himmelskörper lieferte den letzten Beweis, den ich benötigte. Dies war nicht mehr Gondwana. Wo auch immer man mich abgeliefert hatte, mit meinem Heimatplaneten hatte es nichts mehr zu tun.
Mutlos verharrte ich in demütiger Pose, völlig ratlos ob des weiteren Vorgehens. Die anfängliche Faszination schlug in Schwermut um. Wenn das kein böser Traum war! Keine Chance. So sehr ich mich auch an diese Hoffnung klammerte, noch war ich in der Lage, Realität und Wunschdenken auseinanderzuhalten. Und all das hier fühlte sich verdammt real an.
Was hätte Vater an meiner Stelle getan? Ich rief mir die zahllosen Abenteuer auf seiner Reise durch Gondwanaland ins Gedächtnis, welche ich mir in ebenso zahllosen Momenten in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte. Sein Tagebuch, die Erzählung eines langen Lebens, war stets ein Quell der Inspiration gewesen, ein Ansporn, niemals aufzugeben, auch nicht in den dunkelsten Momenten zerstörerischer Selbstzweifel. Ob ich es ohne sein Vorbild geschafft hätte? Wohl kaum. Er lehrte mich, ohne ihn jemals kennengelernt zu haben, wie mit Isolation, Abgeschiedenheit und Einsamkeit umzugehen war. Meine ganze Existenz fußte praktisch darauf, so war ich aufgewachsen, nichts anderes kannte ich. Die Sehnsucht nach Meinesgleichen zog sich wie ein roter Faden durch die Tiefen meiner Existenz. Zu wissen, dass es ihm Zeit seines Lebens ähnlich ergangen war und er zu keiner Zeit aufgegeben und losgelassen hatte, sondern unermüdlich bis zum letzten Atemzug weiterkämpfte, hatte mich stets tief bewegt. Nun sah ich mich mit einer Situation konfrontiert, die er sich vermutlich immer gewünscht hatte und die doch nie eingetreten war: die Aussicht, auf andere Menschen zu treffen. Er war mutterseelenallein gestorben, abgeschnitten von den Seinen, denen er bis zuletzt unermüdlich nachgespürt hatte.
Diese Perspektive stimmte mich die entscheidende Spur zuversichtlicher. Zuversichtlich genug, um wieder aufzustehen. Vater, was hättest du jetzt gemacht? Du wärst bestimmt nicht angstvoll zusammengesunken dagesessen und hättest dich und dein Schicksal bedauert! Ganz sicher nicht! Beinahe trotzig, ja herausfordernd, blickte ich hoch. Wenn ich schon dazu verdammt worden war, auf diesem Planeten zu verweilen, dann mit der nötigen Portion Vertrauen in meine Fähigkeiten. Hier zu überleben, konnte sich nicht sonderlich von Gondwana unterscheiden.
Wie gewaltig ich mich doch irren sollte!
Dann fingen meine suchenden Augen ein spannendes Bild ein. Ich konnte mich täuschen, doch wusste ich nach wie vor, wie ein Pfad aussah. Und die dunkle Schneise, welche sich in einiger Entfernung durch die Vegetation schlängelte, erinnerte verteufelt daran.
In der Tat, ein Weg! Eher ein Trampelpfad. Angelegt und benutzt von wem? Das ließe sich herausfinden. Und schon stand die Entscheidung fest, wo es langgehen sollte. Irgendwohin musste er führen, höchstwahrscheinlich zu anderen Menschen, von deren Anwesenheit ich ja wusste. Und zu ihnen wollte ich. An Ort und Stelle Wurzeln zu schlagen, machte keinen Sinn.
Mit gebotener Vorsicht bahnte ich mir einen Weg durch den krautigen Niederwuchs, jeden Schritt mit Bedacht wählend, die fremde Sonne im Nacken. Wenigstens ihre Strahlen wärmten ebenso beruhigend wie zuhause. So vieles erinnerte an daheim. Befand ich mich am Ende doch noch auf Gondwana? Allmählich wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte.
Der festgebackene, staubtrockene Pfad, gute anderthalb Meter breit, stimmte mächtig zuversichtlich. Seine pure Anwesenheit vermittelte das tröstende Gefühl, in absehbarer Zeit an ein Ziel zu gelangen, wie dieses Ziel auch immer aussehen mochte. Immerhin erlöste es von der quälenden Vorstellung, orientierungslos durch fremdes Land zu stapfen. Hoffnung keimte auf. Sicherlich hatte man mich hier nicht ohne Grund abgeworfen. Irgendein Plan musste dahinterstecken!
Stunden vergingen. Unermüdlich setzte ich einen Fuß vor den anderen, in der festen Überzeugung, irgendwann irgendwo anzukommen. Hunger und Durst stellten sich ein, doch ignorierte ich beides geflissentlich. Mir fiel auf, bisher noch nicht das kleinste Bächlein ausfindig gemacht zu haben. Wasser musste es aber geben, die Vegetation sah jedenfalls so aus, als stünde sie gut im Saft.
Die Landschaft änderte sich nun. Das allgegenwärtige Heidekraut zog sich zurück und machte höher wachsendem Buschwerk Platz, hinter dem sich allerhand Bedrohungen verbergen konnten. Meine wenig geschärften Sinne mahnten zur Vorsicht. Auf Gondwana gab es keine Raubtiere, die einem Menschen hätten gefährlich werden können. Ich durfte nicht darauf vertrauen, dass es sich hier ähnlich verhielt.
Als ich die Menschen sah, schlug mein Herz höher. Endlich hatte ich sie gefunden! Automatisch ging ich davon aus, es hatten welche zu sein, die mit mir hier angekommen waren. Andere Möglichkeiten zog ich gar nicht erst in Betracht. Es mussten Freunde sein, letztlich befanden wir uns alle im selben Boot!
Also beschleunigte ich die Schritte, marschierte mit wild klopfendem Herzen auf die kleine Gruppe zu. Sechs Individuen! Zum ersten Mal seit so vielen Jahren stand mir etwas bevor, wovon ich Ewigkeiten lang nicht mehr zu träumen gewagt hatte.
Andere Menschen!
Meine Gedanken jagten einander. Wer waren sie? Welche Sprache würden sie sprechen? Von wo kamen sie her? Kannten sie am Ende den Grund, weswegen sie hierher gebracht wurden?
Nur mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, ihnen schon von Weitem zuzurufen. Endlich bemerkten sie mich, der ich eiligen Schrittes auf sie zu stolperte. Atemlos blieb ich stehen, um mir nur keine Einzelheit dieses kostbaren Moments entgehen zu lassen. Wir beäugten uns aus der Entfernung. Wie klein sie waren! Eine Sinnestäuschung, zweifellos!
Ich hob die Hand zum Gruß, winkte ihnen zu. Eine entsprechende Reaktion blieb aus, was mich verwunderte, jedoch bei weitem noch nicht zu so etwas wie Misstrauen veranlasste. Bewegungslos verharrten sie weiterhin an Ort und Stelle, rührten sich nicht vom Fleck, gafften mir aber nach wie vor entgegen. Unerschütterlich ging ich felsenfest davon aus, Bundesgenossen in ihnen zu finden. Also lief ich weiter auf sie zu, ein breites Lächeln der Vorfreude auf dem Gesicht. Erst als der Abstand merklich schrumpfte, kam Bewegung in die kleine Gruppe. Sie teilte sich auf. Die eine Hälfte schlug sich links des Pfades in die Büsche, die andere rechts davon.
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