Da sich weiterhin nichts tat, schöpfte ich neuen Mut und richtete mich vorsichtig auf. Nichts geschah, man ließ mich gewähren.
„Was willst du?“ schrie ich dem Schatten herausfordernd entgegen. Ich erwartete keine Antwort und wurde dementsprechend auch wenig enttäuscht. Kühner geworden gewahrte ich einen faustgroßen Kiesel vor mir, nahm ihn auf und schleuderte ihn meinem Verfolger entgegen.
Ohne jedes Geräusch verschwand er inmitten des Schattens. Ich hatte unzweifelhaft getroffen. Nun ja, keine Meisterleistung, das monströse Ding zu verfehlen war schier unmöglich. Interessanterweise war der Stein regelrecht verschluckt worden, er kehrte nicht mehr auf den Erdboden zurück. Diese Tatsache jagte mir erneut einen Schreck ein. Das Wissen, mich unterhalb eines wie auch immer gearteten Objekts zu befinden, welches in der Lage war, Steine zu verschlingen, löste neue Fluchtimpulse aus.
Doch so weit kam es nicht mehr. Blassgrünes Licht hüllte mich ganz plötzlich ein. Meine Augen tränten. Das Leuchten drang zweifellos aus dem Innern des gewaltigen Gefährts und blendete die Umgebung komplett aus. Nun war ich ein Teil von ihm, spürte seine Macht, seine Kraft. Die Schwerelosigkeit schien aufgehoben, mein Körper hob von der Oberfläche ab, sacht und sanft, beinahe unmerklich. Als meine Beine den Bodenkontakt verloren, geriet ich für einen Moment in Panik und versuchte zappelnd und strampelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen zurück in mein Element zu finden. Zu spät! Es ging aufwärts, immer weiter, unerbittlich. Einem gefangenen Insekt im Netz der Spinne gleich, gab ich jeden Widerstand auf und harrte der Dinge, die jetzt unweigerlich kommen sollten.
Näher und näher saugte mich das Licht in den direkten Einflussbereich des Gefährts. Die nun hell erleuchtete Unterseite gab erste Einzelheiten preis. Ich schätzte seinen Durchmesser auf gut und gerne vierzig bis fünfzig Meter, wenn nicht mehr. An den Rändern pulsierte jenes blassgrüne Licht und raste in einem Affenzahn im Kreis umher. Je näher es mich anzog, desto schneller blinkte und flitzte es um die eigene Achse. Mir wurde schwindlig beim bloßen Anblick.
Endlich nahm ich die kreisrunde Öffnung wahr, ein gähnendes, tiefschwarzes Loch, auf welches ich in immer noch moderatem Tempo zustrebte. Mein Blick blieb magisch daran haften. Dorthin sollte also die Reise gehen, zweifelsohne in das Innere des Schattens. Merkwürdig gelassen blieb ich. Angst und Schrecken fielen von mir, als erlebte ich jeden Tag Ähnliches, als wäre es das Normalste von der Welt, von einem fliegenden Objekt dieser Größe eingesaugt zu werden.
Und dann war ich drin!
Die letzten paar Meter verliefen ruckartiger, nicht mehr so glatt und geschmeidig wie noch zuvor. Das grüne Leuchten erstarb, der Boden unter mir schloss sich.
Der Schatten hatte mich verschluckt.
In seinem Innern herrschte tiefste Dunkelheit. Nicht die geringste Einzelheit bot sich meinen suchenden Augen. Ganz eindeutig stand ich auf eigenen zitternden Beinen. Jetzt wo ich rein gar nichts mehr sah, kehrte die Angst zurück. Vehementer als zuvor. Ich schämte mich der Schreie nicht, die ich in die Dunkelheit entließ. Kein Echo, kein Schall, nichts. Die Hände schützend über den Kopf gelegt, ging ich in die Knie und ließ mich ergeben auf den Boden sinken. Meine gehetzten Atemzüge klangen merkwürdig dumpf, als befände ich mich in einem winzig kleinen Raum.
Lange Zeit geschah nichts. In meiner Position verharrend, wagte ich irgendwann, aufzublicken. Ein schwaches Leuchten in unmittelbarer Nähe. Violettes Licht weit über meinem Kopf. Ich sah wieder, wenn auch nicht unbedingt viel. Durchscheinende Wände, welche mich zu allen Seiten umgaben. Meine fremdartig violett schimmernden Hände berührten kühles, durchscheinendes Material zu allen Seiten, als hätte man mir ein Glas über den gesamten Körper gestülpt.
Ich war gefangen in einer gläsernen Hülse!
Merkwürdig gelassen erhob ich mich, ertastete die Größe meines transparenten Gefängnisses. Einen Moment lang war mir so, als erblickte ich die verschwommenen Umrisse weiterer Behälter in der näheren Umgebung. Doch blieb nicht genug Zeit, das Gesehene zu verifizieren. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich das brausende Geräusch, das von oben zu mir drang, als fielen Dutzende zischender Schlangen auf mich herab. Reflexartig wollte ich die Arme über den Kopf werfen, doch kollidierten sie augenblicklich mit den Wänden der schlagartig eiskalten Hülle. Unmittelbar danach ging ein Sturmwind zischend durch die Kapsel.
Augenblicklich froren meine Sinne ein.
Grüne Wiesen, durchzogen mit Bändern schneeweißer und flachsfarbener Blüten, die sacht im Wind nickten.
Die blaue, ruhige See.
Gleißendes Sonnenlicht.
Barbarische Kälte.
Ich fror. Ich fror gotterbärmlich. Die Umgebung weckte Erinnerungen und kam mir doch fremdartig vor. Eine Hütte. Direkt an der Küstenlinie. Ich strich durch das Blütenmeer, auf die Holzhütte zu, in der Hoffnung, dort etwas Wärmendes zu finden. Eine Decke vielleicht. Trotzdem die Xyn, die gute alte Sonne, von einem wolkenlosen Himmel brannte, zitterte ich am ganzen Körper. Mit jedem Schritt verlor ich mehr und mehr Energie, befürchtete gar, die Hütte nicht mehr zu erreichen. Alle Kraft zusammennehmend, stürzte ich auf sie zu, warf mich gegen die angelehnte Tür.
Endlich war ich drinnen.
Und ich war nicht allein.
Ein unbekleidetes Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren saß im Schneidersitz auf dem blanken Boden, die Arme auf den schneeweißen Oberschenkeln ruhend, die Augen geschlossen.
Meine Schwester Ylvie!
„Ylvie?“ rief ich. Keine Reaktion. Bewegungslos verharrte sie, als hätte sie mich nicht gehört. Eine weitere Person trat aus dem dunklen Hintergrund der plötzlich um ein Vielfaches angewachsenen Hütte. Aus stahlblauen Augen fixierte sie mich. Spätestens jetzt war mir klar, zu träumen.
„Mutter?“ fragte ich dennoch. „Bist du nicht mehr tot?“
Ihr unerwartetes Lächeln ließ mich die Eiseskälte vergessen. „Jack, mein Liebling“, sagte sie. Wie viele Jahre hatte ich ihre Stimme nicht mehr vernommen. Fünfzig? Mehr?
„Mutter!“ Mein Blick verschwamm.
Dann löste sich ein weiterer Schatten aus dem Hintergrund. Ein Mann. Einen guten Kopf größer als meine Mutter. Er lächelte. Lächelte gütig. Mir war, als blickte ich in einen Spiegel. Und doch wusste ich, nicht meine Person zu sehen. Nein, dieses seltsam vertraute Gesicht stellte nicht meines dar. Noch nie hatte ich es allerdings lächeln sehen. Warum in aller Welt hielt er die Augen geschlossen?
„Vater!“ Oh, welch schöner Traum.
„Jack, mein Sohn.“ Der Mann legte den Arm liebevoll um meine Mutter. Zum ersten Mal erlebte ich sie zusammen, vereint. Welch unerwartet ergreifender Anblick! Wie oft hatte ich mir gewünscht, beide um mich zu haben, wenn auch nur für einen Moment. Dieser Moment war endlich gekommen!
„Vater, wo warst du?“ Tränen lagen in meiner Stimme.
„Ich war nie fort“, kam die rätselhafte Antwort. „Ich bin immer bei dir. In jeder Sekunde deines Lebens bin ich bei dir. Erschrick jetzt nicht!“ Noch als ich mich fragte, warum er mich warnte, verstand ich den Grund. In dieser Sekunde öffnete er die Augen. Das gleiche stechende Blau. Und doch war alles anders.
Ich blickte in die Facettenaugen eines Insekts!
Mein schöner Traum verwandelte sich in einen Alptraum!
„Was ist mit deinen Augen?“ rief ich bestürzt. Mir fiel ein, ihn nie lebend gekannt zu haben. Als ich ihn vor vielen Jahren tot aufgefunden hatte, waren seine Lider geschlossen gewesen. Nun blickte ich zum ersten Mal in seine wahren Augen. Was ich sah, gefiel mir nicht.
Mein Vater spürte meine Zurückhaltung. Er legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete mir, näherzutreten. „Komm zu mir, mein Sohn! Hab Vertrauen!“
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