Schon kurz nach Betreten des mir verbotenen Landes, spürte ich es. Ganz tief drinnen. Ich spürte die Anwesenheit anderer Menschen. Es gab sie also doch! Und ich nahm ihre Spur auf, die immer weiter ins Herz des trockenen und heißen Kontinents hineinführte.
Die viele Wochen währende Reise ins Innere Gondwanalands sollte zu einer der größten Enttäuschungen meines Lebens werden. Ja, ich traf auf andere Menschen – aber nur auf einen. Einen einzigen! Und besagter Mensch war in der Tat mein Vater gewesen, so unglaubwürdig es auch klingen mag. Nur anhand seines Tagebuches, welches er mit sich geführt hatte, gelang es mir, ihn zu identifizieren. Nur wenige Stunden bevor ich auf ihn traf, war er ums Leben gekommen, aus großer Höhe in den Tod gestürzt. Ein weiteres Opfer des Großen Barrieregebirges, welches den Kontinent Gondwanaland in zwei ungleich große Teile spaltete, in das westliche Kenorland und das östliche Fennosarmatia. Mein Vater kam aus dem Osten Gondwanalands, aus eben jenem Fennosarmatia. Dort hatten einst Menschen gelebt. Viele Menschen. Tausende. Doch dann war etwas geschehen, das ihrer Existenz ein Ende bereitet hatte. Die Ermeskul, die wahren Herrscher Gondwanas, hatten zu alter Stärke zurückgefunden und ihren Planeten bis auf wenige Ausnahmen von allen fremden Lebensformen gesäubert. So jedenfalls hatte es Vater in seinem Journal niedergeschrieben.
Zu diesen wenigen Ausnahmen zählten die sechzehn Einwohner Evus. Warum sie weiterleben durften, Tausende andere Menschen aber nicht, entzog sich lange Jahre meiner Kenntnis. Erst als das Tagebuch meines Vaters auf so mysteriöse Weise in meinen Besitz kam, lüftete sich der Vorhang ein wenig, lernte ich, wer ich war und woher ich kam.
Wir Menschen waren Eindringlinge, Fremde, Außerirdische. Unsere Vorfahren stammten von einem Planeten namens Vestan, einem unvorstellbar weit entfernten Staubpartikel in der ebenso unvorstellbar weiten Wüste des Alls. Einige hundert Jahre lang hatten sie hier auf Gondwana gesiedelt, jene Vestanier, bevor die Ermeskul ihnen die Erlaubnis wieder entzogen.
Die Bezeichnung „Ermeskul“ sagte mir erst etwas, seit mir Vaters Leben in die Hände gefallen war. Vorher hatte ich nie ein Sterbenswort davon gehört. Jetzt, aus der Retrospektive, war mir klar, mit ihm war der letzte Mensch von Gondwana gegangen, der davon wissen konnte. Und wohl auch mehr gewusst hatte, als ihm lieb sein konnte. Hätte Vater darauf verzichtet, sein Leben niederzuschreiben, wüsste auch ich nichts davon – und damit wäre dieses Geheimnis wieder eines geworden. Lange fragte ich mich, warum die Ermeskul die Existenz dieses Zeugnisses zugelassen hatten. Doch die Antwort lag eigentlich auf der Hand. Nur hatte ich mich lange geweigert, sie sehen zu wollen.
Mein Vater hatte seinen Körper mit einem jener Ermeskul geteilt, einem sogenannten Sentry, um genau zu sein. Diese elementare Tatsache zu verstehen, zu kapieren, was dies überhaupt bedeutete, hatte Jahre in Anspruch genommen. Eine Verbindung zu mir herzustellen, noch viele weitere zusätzlich. Klar wurde es erst, als mein eigener Sentry, mein „Bruder“, wie Jezzie ihn stets nannte (und wie ich ihn heute noch manchmal selbst nenne) in Kontakt zu mir trat. Von diesem Moment an verlief mein Leben in anderen Bahnen. Die Feststellung machte ich nicht von heute auf morgen, nein, dieser Prozess nahm viel Zeit in Anspruch. Doch schließlich und endlich konnte ich die Augen nicht mehr vor der Wahrheit verschließen. Auch in mir existierte ein Sentry und damit befand ich mich in einer Linie mit meinem Vater. Sein Leben war plötzlich zu meinem geworden, ich führte es quasi fort, so absurd es klingen mochte.
Die Erkenntnis, in mir ein mehr oder weniger unbekanntes Wesen zu beherbergen, bestürzte mich natürlich zutiefst. Wer würde nicht in Angst und Schrecken verfallen, fände er heraus, seinen Körper mit einer anderen Kreatur zu teilen, welcher es urplötzlich in den Sinn kam, sich bemerkbar zu machen. Doch man gewöhnt sich daran, so wie man irgendwann wahrscheinlich eine unheilbare Krankheit akzeptiert… und einfach weiterlebt. Mit dem Unterschied, dass „mein“ Sentry, mein „Bruder“, nichts Böses im Schilde führte, wie ich dankenswerterweise zur Kenntnis nehmen durfte. Im Gegenteil. Er sollte mir im Lauf des Lebens noch oft zur Seite stehen.
Richtig intensiv wurde unser Kontakt aber erst zu jener Zeit, als ich mich völlig unfreiwillig aus meinem bisherigen Leben herausgerissen sah. Zu jener Zeit, als mein mehr oder weniger unbekümmertes Dasein auf Evu ein so abruptes Ende nahm.
Zu jener Zeit beginnt diese Geschichte.
Die Geschichte meines Lebens…
1
Abduktion
Ich rannte. Ich rannte um mein Leben.
Aus dem Nichts war er aufgetaucht, das Ziel im Visier. Riesig in seinen Ausmaßen, mit nichts zu vergleichen, was ich jemals gesehen hatte, senkte sich der gewaltige Schatten lautlos auf mich herab und blendete das Licht der Xyn aus. Die Umgebung erkaltete spürbar. Von nun an löste er sich nicht mehr von mir, übermittelte die unmissverständliche Botschaft, nicht mehr entkommen zu können. Er war direkt über mir, er hatte mich. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was im Augenblick geschah, spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben wahre Todesangst.
Und das war auch angebracht.
Zu allem Unglück befand ich mich zu diesem Moment inmitten einer weiten Ebene, nicht die kleinsten Versteckmöglichkeiten boten sich. Ich saß im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Präsentierteller. Kein Ausweg in Sicht. Dennoch rannte ich. Ich rannte drauflos, wissend um die Sinnlosigkeit meines Handelns. Mir war überraschend klar, meinem Verfolger nicht entkommen zu können. Selbst als der Schatten mich eingehüllt hatte, ich die Gefahr direkt über mir wusste, blieb ich nicht stehen.
Einen Haken schlagend, wich ich nach Osten in Richtung See aus. Der Schatten löste sich keine Sekunde. Dann machte ich kehrt, flitzte zurück in die Richtung, aus der ich kam.
Der Schatten über mir blieb.
Was auch immer ich tat, er schien genauestens zu ahnen, was ich vorhatte. Er folgte mir unbeirrt, blieb wie ein Magnet an mir haften.
Der ganze Vorgang konnte nicht sehr lange gedauert haben, eine halbe Minute vielleicht. Unvorstellbar! Noch vor wenigen Momenten war mein Leben in geordneten Bahnen verlaufen, hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, was sich wenige Wimpernschläge später über mir zusammenbrauen sollte. Und nun das! Aus heiterem Himmel schlug das Schicksal zu. So interpretierte ich es allerdings erst sehr viel später.
Dann stürzte ich. Schwer atmend kam ich zu liegen, rollte mich auf den Rücken und blickte nach oben. Obwohl ich noch nie etwas auch nur ansatzweise Ähnliches erblickt hatte, beherrschte nur noch ein einziges Wort, ein einziger Name, meine Gedanken:
„Britannic“!
So hieß das Sternenschiff, welches vor Hunderten von Jahren die ersten Kolonisten nach Gondwana gebracht hatte. Unzählige Male war ich in den vergangenen Jahrzehnten die Aufzeichnungen meines Vaters durchgegangen, konnte ganze Passagen auswendig hersagen, erinnerte mich jedes Namens, jedes Ortes, jeder vielleicht noch so nebensächlichen Kleinigkeit.
Und ich erinnerte mich der Britannic.
Natürlich konnte sie es nicht sein, lagen ihre Trümmer doch Tausende von Meilen entfernt auf der anderen Seite des Großen Barrieregebirges, in Gondwanaland, nahe der Ruinen Hyperions. Dort war mein Vater vor einer Ewigkeit auf ihr Wrack gestoßen, zu einer Zeit, als es noch zahlreiche Menschen auf diesem Planeten gegeben hatte.
Meine Gedanken jagten einander. Unzweifelhaft handelte es sich um ein Raumschiff dieser Kategorie, doch was suchte es hier? Wer auch immer sich darin befand, er schien großes Interesse an meiner Person zu haben.
Ich rührte mich keinen Millimeter von der Stelle. Der riesige Schatten tat es mir gleich. Lautlos verharrte er schätzungsweise zehn Körperlängen über mir, nicht das kleinste Geräusch abgebend. Gut, jetzt wo ich etwas von meiner anfänglichen Furcht verlor, vernahm ich dunkles Sirren, ein unterschwellig drohendes Summen, nicht unähnlich dem eines schwärmenden Kapravolkes auf der Suche nach einem geeigneten Unterschlupf, um einen neuen Insektenstaat zu gründen.
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