An dieser Stelle merken wir, wie wichtig es ist, den Autismus beim Vorliegen komplexer Beeinträchtigungen zu priorisieren, um individuellen Bedürfnissen, Stärken und Fähigkeiten Rechnung tragen zu können. Die Theorie des „Systematisierens“ trägt wesentlich zum Verstehen von Verhalten bei, macht z. B. auch deutlich, warum Betroffene Schwierigkeiten haben, mehrere Reize gleichzeitig zu verarbeiten oder Dinge zeitgleich auszuführen (Multitasking), mit einer Tätigkeit von vorne beginnen, wenn sie bei ihrem Tun unterbrochen wurden, sich oft nur langsam von einer Aufgabe oder einer Detailfokussierung lösen können, längere Zeit benötigen, ihre Aufmerksamkeit zu wechseln, sich im Rahmen einer Tätigkeit nicht durch Kontexte irritieren lassen oder aber Widerstand leisten, wenn sie bei der Ausführung eines Auftrags durch andere gestört werden.
Solche Verhaltensweisen sind bei autistischen Personen mit komplexen Beeinträchtigungen in der Regel stärker ausgeprägt als bei nicht-autistischen Menschen mit Lernschwierigkeiten. Funktional betrachtet dienen sie im Sinne des „Systematisierens“ der Aneignung von Welt. Zudem geht es beim Sammeln, Ordnen und Strukturieren z.T. auch um Tätigkeiten aus reinem Vergnügen heraus. Problematisch sind unvorhersehbare, plötzliche Störungen des Gewohnten einzuschätzen, die Abweichungen von der Routine, von der üblichen Ordnung oder von liebgewonnenen Gewissheiten erfordern (vgl. Favre et al. 2015). Das erzeugt Stress, Panik und Ängste und führt zu einem „Überlebenskampf“ (vgl. Schmidt 2020b), der in Form von Meltdown, Wut, Fremdaggression, selbstverletzendem Verhalten oder auch durch Flucht, Rückzug oder Shutdown zutage treten kann.
„Für mich ist es (…) ein Stressor, wenn das Original schief auf dem Kopierer lag und ich dann keine ‚gerade‘ Kopie vor mir liegen hatte. Es sind diese kleinen Dinge, die nicht-autistische Menschen einfach ignorieren können, weil sie ja eigentlich auch wirklich unwichtig sind. Aber bei autistischen Menschen ist dies eben anders“ (Vero 2020, 216). Über ähnliche Situationen, die als ausgesprochen anstrengend, stresshaft erlebt werden, berichtet die Autistin Judith Visser (2019, 68): „Ich musste auf so vieles gleichzeitig achten. Aufpassen, dass ich nichts umstieß, zuhören, was die anderen sagten, nicht die Augen zumachen. Nein, auch nicht bloß für eine Sekunde“; und wenige Zeilen später heißt es: „Die jugoslawischen Klänge überschlugen sich, und in meiner Lunge war kein Sauerstoff mehr, nur der Geruch von Pfannkuchen, unzähligen Pfannkuchen. Alle Gerüche, Farben und Geräusche prallten in meinem Kopf aufeinander, mit solcher Wucht, dass ich dachte, mein Schädel würde zersplittern.“ Begegnen mehrere solche „Kleinigkeiten“ einer autistischen Person an einem Tag, kann dies schließlich bei dem letzten Ereignis zum Meltdown führen, „wobei diese Kleinigkeit an sich nicht die eigentliche Ursache ist“ (Schmidt 2020, 192). Vielmehr ist es die Fülle an Stressoren, die „eine Konzentration mit Anforderungen (erzeugen; d. A.), die nicht zur Natur des Autisten passen“ (ebd., 56). Das kann Overload, eine nicht mehr kompensierbare Reizüberflutung bedeuten und einen unbeabsichtigten Meltdown provozieren – als Ausdruck emotionaler Verzweiflung provozieren, „weil tiefgreifende Bedürfnisse akut bedroht sind“ (ebd., 57).
Pädagogischer Tipp
•Sich mit dem Bedürfnis des „Systematisierens“ sowie den Funktionen der entsprechenden Verhaltensweisen vertraut machen;
•sich auf das entsprechende Verhalten gelassen einstellen;
•Stimming als Entlastungsstrategie unterstützen;
•Situationen möglichst vorhersagbar und konstant halten (von einer erwarteten Situation profitieren vor allem hoch empfindliche Personen);
•Strukturierungshilfen (visualisierte Tages- oder Handlungsabläufe) gemeinsam erarbeiten.
Wird der Autismus priorisiert, sollten wir uns zunächst einmal typische Unterschiede zwischen Autismus und kognitiver Beeinträchtigung (sog. geistiger Behinderung) vor Augen halten.
Bereiche |
Typisch für Autismus |
Typisch für kognitive Beeinträchtigungen (geistige Behinderung) |
Wahrnehmung |
Über-/unterempfindlich, atypisch, spezielle Diskriminations- oder Dysregulationsprobleme |
Eher allgemein entwicklungsverzögert |
Lernverhalten |
Atypisch, interessenbezogen |
Eingeschränkt, verzögert |
Gedächtnis |
Eher stark ausgeprägt |
Eher schwach ausgeprägt |
Ausdauer, Konzentration |
Hoch bei der Beschäftigung mit Spezialinteressen |
Eher schwach (bis auf monotone, einfache Tätigkeiten) |
Kognitive Belastbarkeit |
Hoch bei der Beschäftigung mit Spezialinteressen |
Im Allgemeinen gering |
Multitasking |
Wahrnehmungsbedingt überfordernd (Reizüberflutung) |
Kognitiv (gedächtnisbezogen) überfordernd |
Spezialinteressen/Stärken |
Außergewöhnliche Interessen in Bezug auf wenige Dinge |
Eher Interessen auf einfachem Niveau, breit gestreute Stärken |
Motorik |
Eher spezifische Auffälligkeiten, Unbeholfenheit, aber auch feinmotorisches Geschick |
Eher allgemein entwicklungsverzögert, unbeholfen |
Stimming (selbststimulierendes Verhalten) |
Funktional als Stressbewältigungsstrategie, zur Beruhigung |
Eher aus Langeweile und stereotyp (v. a. unter hospitalisierenden Lebensbedingungen), seltener funktional in Bezug auf Stress |
Bedürfnis nach Routine, Ordnung, Beständigkeit |
Stark ausgeprägt, starkes Regelbewusstsein, Gerechtigkeitsempfinden |
Selten stark ausgeprägt, auf einfachem Niveau wie Aneinanderreihung von Dingen o. Ä. |
Sprache/Kommunikation |
Entwicklungsverzögert, atypisch, wahrnehmungsbedingte Verständnisprobleme, Kommunikation ohne Beziehungsebene |
Entwicklungsverzögert, kognitiv (intellektuell) bedingte Verständnisprobleme |
Sozialverhalten/Interaktion |
Vermeidend, sozialer Rückzug, ausgeprägte Selbstbezogenheit, unter Umständen geringe Empathie |
Zugewandt, kontaktfreudig, freundlich |
Emotionalität |
Eher schwer zugänglich |
Ausgeprägt, offen, ehrlich |
Lebenspraktische Kompetenz |
Variiert, teilweise stark eingeschränkt |
Im Allgemeinen entwicklungsverzögert |
Meltdown/Shutdown |
Häufig beobachtbar, als Reaktion auf Stress, Reizüberflutung oder Abweichung von Routine, Regeln, Absprachen oder Erwartungen |
Unüblich, eher unspezifische Verhaltensauffälligkeiten als Reaktion auf kritische Situationen |
So kann z. B. eine Tätigkeit, bei der ein Ordnungssinn (z. B. Aneinanderreihung bestimmter Dinge) oder eine Vorliebe für Routine und Rituale eine Rolle spielen, auch bei kognitiv beeinträchtigten Personen ohne Autismus-Diagnose hervortreten. In dem Fall sollte ein entwicklungsverzögertes Spielverhalten reflektiert werden, das im frühen Kindesalter vorübergehend beobachtbar ist. Ebenso kann die Tätigkeit isolierenden Lebensbedingungen (Hospitalisierung) geschuldet und dementsprechend funktional (subjektiv) bedeutsam sein.
Eine differenzierte Betrachtung ist gleichfalls beim sogenannten stereotypen oder repetitiven Verhalten geboten. Es macht nämlich einen Unterschied, ob sich jemand aufgrund eines anregungsarmen Lebensmilieus (z. B. Anstaltssituation, Leben in einer großen Heimgruppe, Pflegestation) selbst stimuliert (z. B. durch Schaukeln mit dem Oberkörper) oder ob ein solches Verhalten zum Spannungsabbau und zur Beruhigung eingesetzt wird. Bei einer hospitalisierten, nicht-autistischen Person mit Lernschwierigkeiten „wird dieses Verhalten nicht selten durch eine unzureichende, stimulierende Umgebung verursacht (…). Bei autistischen Personen kann hingegen das stereotype Verhalten ein Weg sein, einer Reizüberflutung zu entkommen oder einen optimalen Erregungszustand herzustellen. In beiden Fällen wird die Art des Umgangs mit dem stereotypen Verhalten unterschiedlich sein, indem entweder verstärkt Stimulationen angeboten werden oder eine Reizüberflutung reduziert wird“ (De Vaan et al. 2013, 493).
Читать дальше