Georg Hermann
Vom gesicherten und ungesicherten Leben
Ernste Plaudereien
Saga
Vom gesicherten und ungesicherten Leben
© 1915 Georg Hermann
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517222
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Keinen Anspruch erhebe ich darauf, mich mit den Realitäten dieser Welt in Einklang zu bringen. Ich suche auch kein Ziel darin, diese in irgend einer Weise abzuändern. Ich erlaube mir nur, zu bemerken, dass ich mit ihnen vielfach nicht übereinstimme.
Immerhin würde es mich freuen, wenn ich etwelchen, von denen, die sich auch nicht mit ihnen abfinden können, die stumme Seele löse.
Neckargemünd, Mai 1915.
Georg Hermann
Vom gesicherten und ungesicherten Leben
Seit Jahren habe ich den Wunsch, über das gesicherte und ungesicherte Leben zu schreiben; aber ein inneres Bangen hat mich immer wieder davon abgehalten, es zu tun. Denn ich fühlte, es stand viel dabei für mich auf dem Spiel. Mehr als viel: alles. Es war ‚meine‘ Sache, die ich hier führen wollte, meine eigenste Lebenssache, war der letzte schlummernde Grund meines Seins, den ich hiermit aufrühren wollte. Etwas war es, das einmal gesagt werden musste und von dem ich doch stets empfand, dass ich ihm nicht die gehoffte Form geben konnte — weil ich es eben nur wie einen Albdruck gefühlt und nie im reinen Licht der Erkenntnis erblickt hatte. Und trotzdem, weiss ich, würde es mich noch in letzter Stunde reuen, mit stummen Lippen geblieben zu sein, als hätte ich eine Lüge und Feigheit damit begangen.
Aber immer fragte ich mich, wie sollte ich über das gesicherte und ungesicherte Leben mich äussern können, da ich ja das eine, das gesicherte, nie kennen gelernt habe, davon reden würde, wie der Blinde von der Farbe, mit Übertreibungen, mit Unmöglichkeiten, mit Ungerechtigkeiten.
Und weiter sagte ich mir, die, alle die vom gesicherten Leben würden ja gar nicht verstehen, was ich eigentlich meinte, und die wieder vom ungesicherten Leben werden nicht begreifen, warum ich über so alltägliche Dinge spreche, die sie sich längst an den Schuhen abgelaufen haben, und die ihnen so selbstverständlich sind, dass sie es sich abgewöhnt haben, darüber nachzudenken. Denn das eine schien mir erwiesen: genau so wie die Erde in eine nördliche und in eine südliche Hälfte zerfällt, und es auf der einen Sommer ist, zur Zeit, da es auf der anderen Winter ist, so ist die Menschenwelt in zwei Hemisphären geteilt, die vom gesicherten und die vom ungesicherten Leben. Und bei der einen ist Sommer, wenn es bei der anderen Winter ist — und umgekehrt. Sie verstehen sich nicht, sie kennen sich nicht, sie leben nebeneinander her und reden verschiedene Sprachen des Gefühls. Jedes Wort hat andere Resonanz, wächst aus anderem Urgrund — und keinen Sachs-Villatte gibt es, mit dessen Hilfe man es von der einen Sprache in die andere übertragen könnte. Ein Äquator trennt beide Welten. Nicht unüberschreitbar, aber man wird getauft, wenn man ihn passiert. Gewiss, es bleibt noch eine dumpfe nebelhafte Erinnerung an die alte Ursprache des Seins zurück, so wie unsere Eichen unten im Süden noch ein paarmal die Blätter abwerfen, wenn es in ihrer alten Heimat Herbst wird, und Bananen bei uns vielleicht blühen, aber kaum Frucht ansetzen. Gewiss ... aber das wird schnell übertönt durch die neue Gegenwart.
Scharf getrennt also — so sage ich — ist das gesicherte und das ungesicherte Leben. Geschieden durch Welten und Meere sind ihre Anhänger und Bekenner. Das heisst, sie sind meist Anhänger und Bekenner, ohne es sich gewählt zu haben, hineingeboren, hineingestellt. Der Kolibri flatterte und schwirrte nicht in der ganzen Welt umher und suchte sich endlich Brasilien als Heimat aus, sondern Brasilien schuf sich den Kolibri, ebenso wie Spitzbergen sein Weidengestrüpp und seine Zwergbirken, die einen kurzen Sommermond zwischen Steinen und am Rande der Gletscher den melancholischen Kreislauf ihres Daseins erfüllen.
Ja, wird man fragen, wie kann der hier denn mit Begriffen hantieren, die ganz vage und ungeklärt sind! Was heisst denn gesichertes und ungesichertes Leben? Ist es nicht tief in der Wesenheit alles Lebens begründet, dass es ungesichert ist? Ist nicht jedes Leben ein Gehen über schwankem Sumpfboden? Einmal kommt doch die Stelle, da man durchbricht und ins Bodenlose versinkt. Selbst eine Riesenschildkröte, solch ein lebendes Panzerfort, das durch Jahrhunderte den gleichen milden Stumpfsinn seines kühlen Daseins verträumt, selbst ein Drachenbaum, der durch ein Jahrtausend die brennende Glut Teneriffas in sich eintrinkt, sind endlich genau so ungesichert wie ein Käferchen, dessen Dasein sich an einem hellen Frühlingstag vollendet. Zum Schluss sind sie alle den gleichen Mächten unterworfen, und nur Gradunterschiede sind es, die jene halben Ewigkeiten von fliehenden Sekunden trennen. Also wie kann man da von einem gesicherten Leben sprechen?!
Und ist es nicht oft der Trost der Armen, dass in dieser Welt die Ersten wie die Letzten den gleichen Lebensgesetzen unterworfen sind? Wie oft habe ich nicht von einfachen Frauen gehört: „Gott sei Dank, dass die wenigstens ihre Kinder allein kriegen muss, und es sich nicht auch noch von uns anderen abnehmen lassen kann.“ ‚Ob Hoch, ob Niedrig — das Menschliche muss jeder ausbaden.‘
Also bedeutet das gesicherte Leben wirklich nichts anderes als Reichtum, generationengehütete Wohlhabenheit, gutbürgerliche Existenz, Scheckbuch, Bankkonto, Zinsen, Landhaus, nichts: als ausserhalb des Bannkreises direkter oder indirekter Not stehen? Sind wirklich nur so grobmaterielle Dinge letzten Endes bestimmend über Wohl und Wehe? Schaffen sie die zwei Hemisphären der Menschenwelt? Läuft es nur zum Schluss auf die alte Geschichte von den hungrigen und den satten Ratten hinaus? Und dann — wo sollten die Grenzen sein? Bestimmt man die nach den Steuerstufen? Und sind nicht je nach der Lebenshaltung für den einen zehntausend Mark eine Summe, die ihn und die Seinen scheinbar für ewige Zeiten sicherstellt, während sie für den anderen als Jahreseinkommen im günstigsten Fall nicht mehr bedeutet, als eine löchrige Decke, die an allen Ecken zu kurz ist, wie er sich auch drehen und wenden mag. — Also?! —
Und fühlt sich nicht auch der Arbeiter, der Samstags in der Kneipe auf den abgehobelten Tisch mit der Faust schlägt, breitbrüstig, gewaltig, geladen mit Kraft, im Augenblick ebenso gesichert, wie jene?
Und das Bettlerkind, das auf dem Hof in einer Ecke mit ein paar Holzknebeln spielt, — hat es nicht eine Sorglosigkeit und Sicherheit, die durch keinen Besitz zu erkaufen ist?
Ersetzt nicht das Gefühl von Kraft, von Gesundheit oftmals alle Empfindungen von Geborgenheit, die der Besitz zu geben weiss?
Kann nicht der Weise so gut wie der Gläubige durch die Selbsttäuschung des Denkens oder des blinden Sichhingebens sich unverlierbar-eingefügt in das Weltganze fühlen?
Oder man brauchte den Schutzmann nur anzusehen, der an der Strassenkreuzung mit erhobener Hand den Verkehr lenkt, um an ihm und in ihm den Ausdruck des gesicherten Lebens in strahlendster Blütenfülle offenbart zu finden. Nicht das Einzelleben, das doch Zufälligkeiten ausgesetzt ist, nein, den Staat, bestehend, ungebunden an menschliche Schwäche, vertritt er; nicht das simple gesicherte Leben des Villenbesitzers, — das für Jahrhunderte garantierte Leben vertritt er. Er ist zuerst Uniform, zu zweit nebensächliche Füllung dieser Uniform und zu dritt erst Mensch, Einzelner, Individuum, armseliges, zweizinkiges Wesen. Und gewiss ist, dass sein zweites und drittes für ihn im Augenblick ebensowenig bedeutet wie für uns. Ein gut Teil der Menschheit aber ist in diese Uniform gesteckt, die nicht immer buntfarbig mit Litzen und blanken Knöpfen zu prunken brauchen, aber vom Schullehrer so gut und sichtbarlich getragen werden, wie vom Kanzleirat, vom Referendar und vom Herrenhausmitglied so gut wie vom ordentlichen Professor der Nationalökonomie.
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