Also was ist es um das gesicherte Leben? Ist es Reichtum, gutbürgerlich, generationengehütet, Handel, Geschäft, Leitung, Selbständigkeit? Ist es der Vollbesitz von Kraft, der nach Entladung sich sehnt? Ist es die himmelblaue Sorglosigkeit des Kindes? Ist es die Erkenntnis des Denkers: mir kann nichts geschehen; nichts geht verloren; alles rollt weiter von Ewigkeit zu Ewigkeit? Ist es das gläubige Sichhingeben, das Schwimmen im All, eine Autosuggestion, der der geistig Arme unterliegen kann und gegen die der Intellekt sich sträubt? Ist es Gesundheit? Der ungehemmte Ablauf des Lebensprozesses mit Schlaf und Wachen, Essen und Ausscheiden, mit erfülltem Wunschleben, in dem alles sich ausbalanciert und immer noch ein Plus bleibt? Ist es das Eingegliedertsein in den Bienenstock des Staates, der Glaube an ihn — als reale Macht, das Sicheinsfühlen mit ihm: l’état c’est moi?
All das ist es wohl ... jedes ist es wohl ... aber es braucht es nicht zu sein. Ist im besten Fall doch nur eine Begleiterscheinung des gesicherten Lebens, eine Voraussetzung. Ist das Fundament, aus dem das gesicherte Leben sich aufbaut — nicht mehr. Das gesicherte Leben selbst ist eine Gefühlsbetonung, ein Sehwinkel, eine unbewusste Philosophie, die man bewusst nicht erwerben kann, ein Fluidum, eine Aureole, die man nicht durchbrechen kann, denn wohin man auch gehe, man trägt sie mit sich. Es ist ein Schutzwall gegen tausende von Eindrücken und ein Gradmesser für hunderte von Handlungen.
Ich kann schwer sagen, woran man die Leute vom gesicherten Leben erkennt; aber man erkennt sie. Nicht an der Gesichtsfarbe, nicht an der Kleidung, trotzdem die auch mitspricht. Ein Mann vom ungesicherten Leben zum Beispiel kann sich wohl eleganter, reicher, besser kleiden, wird oft mehr auf Kleidung geben müssen; aber der Mann vom gesicherten Leben trägt seine Sachen selbstverständlicher auf dem Leib, bezahlter, er bewegt sich gleichgültiger darin. Auch wenn er nichts auf Kleidung gibt, wird man ihn nie mit jemand verwechseln, den eben die Not zwingt, sich ärmlich oder nachlässig zu kleiden.
Also nicht an der Kleidung erkennt man den Mann vom gesicherten Leben, sondern an den Augen. Auch nicht an den Augen, sondern am Blick. Auch eigentlich nicht am Blick — den können hunderterlei Äusserlichkeiten beeinflussen ... überhaupt nicht an irgend etwas, was diese Augen haben, sondern nur an etwas, was ihnen fehlt, was bei ihnen nicht da ist und das den anderen — den Ungesicherten — auf dem Grund der Augen (und nur da) schwimmt, als ein Flackern, ein Nachinnenleuchten, als der Reflex einer Frage, einer Ungewissheit, einer Angst, eines Nichtvergessenkönnens, als ein steter (gleichsam sich selbst belauschender) Unterton leiser Nachdenksamkeit. An dem Fehlen dieses Untertons im Blick erkennt man den Mann vom gesicherten Leben. Denn die Augen sind die einzige Stelle, an der das lederne Futteral der Seele so dünn ist, dass der Inhalt durchschimmert.
Gewiss, man erkennt ihn auch an anderen Dingen. Ein Mann vom gesicherten Leben, ein Mann in einem Automobil ‚beiläufig‘ zieht sich schon anders die Handschuhe an als unsereiner. Er hat so eine wunderbar unnachahmliche Art, dabei ins Leere, an den Dingen und Menschen vorbei, durch die Dinge und Menschen hindurch zu sehen, als wäre die Welt aus Glas. Er raucht auch anders seine Zigarre, als wir. Er schmaucht nicht daran, wie der Arbeiter, der vom Bau kommt; er bläst wohlgesetzt, leicht und nachdenklich vor sich hin. (Sieht man doch sogar einem Mann in einer Wirtsstube an, ob er seine Alltagszigarre raucht, oder sich einmal eine bessere Sorte gegönnt hat — die ihn für eine halbe Stunde in das gesicherte Leben sich hinüberträumen lässt.)
Gewiss, ich erwähnte schon, dass ja das Menschliche jeder ausbaden muss. Zugegeben, Herr von Goethe. Und es wäre närrisch, anzunehmen — (wie es die Ungesicherten oft in stiller Wut glauben): das gesicherte Leben kenne keine Sorgen, keine Fährnisse, lebe in eitel Lust und Unbekümmertheit dahin.
Nein, nichts macht vor seiner Türe Halt. Aber — und das scheint mir ziemlich beachtenswert! — es zieht sich draussen Filzschuhe an und geht über Teppiche. Da dem gesicherten Leben von den Realitäten der Welt ein grösseres Tortenstück gehört, so hat er auch Sorgen, die an ihnen hängen, wie das angebackene Kantenpapier am Tortenstück — mehr Sorgen als jener vom ungesicherten Leben, der nur heimlich, im Vorbeigehen, sich mal ein Bröckelchen von der Verzuckerung oder ein Blättchen vom Früchtekranz stiebizt. In schlaflosen Nächten denkt er daran, wie er sein Kapital vermehren oder vor Verminderung schützen mag, sein Geschäft heben, seine Stellung in Staat oder Gesellschaft festigen soll, wälzt Transaktionen, Aktien, Anteilscheine, Grundstücke und Hypotheken.
Aber — wenn er diese Gedanken ausschaltet, dann hört er im Hintergrund so ein leises, beruhigendes, einlullendes Rieseln, wie das Sandfliessen einer Eieruhr: Sein Kapital, sein Geschäft, seine Häuser, sein Besitz — all das, was draussen für ihn arbeitet, fern irgendwo in der Welt, ohne sein Zutun, selbsttätig ... und das ihm garantiert, dass das Morgen wie das Heute sein wird, keineswegs allzu wesentlich verschieden. Unbewusst empfindet er dann die beiden Grundworte aller Grammatik: Sein und Haben! Jedes Verb, jedes Zeitwort lässt sich damit biegen, bewegt sich nur durch sie und ist ohne sie nur Schall und Fiktion. Und dank dieser Grundempfindung bestehen eben für den Mann vom gesicherten Leben die Dinge, sind Realitäten: der Staat, das Leben, der Besitz.
Warum in aller Welt soll der Mann vom gesicherten Leben nicht an den Wert des Besitzes glauben, auf den er seine Hände legen kann? und soll nicht mit Giusti sagen:
Ich glaube an des Goldes heil’ges Wesen
Und auch an seinen Sohn, geprägt in Gulden,
Ich glaube an die Trinität der Spesen,
Der Konsols und der indirekten Schulden!?
Warum nicht an den Staat, der ängstlich über das seine wacht, wo er es nicht selbst bewachen kann, der ihn ehrt, und mit dem er sich eins fühlt? und warum nicht an das Leben, das ihm — wenn auch unter Vorbehalt — Garantieen bietet, die das Morgen nicht mehr problematisch machen, das auch für den vom ungesicherten Leben stets problematisch bleibt, selbst wenn es für diesen nicht mehr im wortwörtlichen Sinne zu nehmen ist, sondern einen Monat, ein halbes Jahr, ja sogar Jahr und Tag heisst ... Was ändert das? Immer noch wirft es als ‚Morgen‘ seine bänglichen Schatten voraus.
Gewiss — der Mann vom gesicherten Leben kann ebenso vom Dasein ausser Gefecht gesetzt werden und ist ebenso zum Schluss allen blöden Zufälligkeiten ausgesetzt, die den Gang der Maschine hemmen, in Unordnung bringen und aufheben; wenn auch — das wollen wir doch nicht vergessen: — der Kuppler auf dem Rangierbahnhof, die Spiegellegerin, der Glasschleifer, der Barchentzuschneider, der Drucker bei seinen Bleidämpfen, der Maschinist, der zwischen den schnurrenden Transmissionen auf einem Quadratmeter Beton seinen Tag und oft auch seine Nacht verbringt, von diesen blöden Zufälligkeiten ein ganz klein wenig stärker umlauert ist.
Aber — auch das wollen wir betonen! — der Mann vom gesicherten Leben kann mit ziemlicher Bestimmtheit darauf rechnen, dass alle Katastrophen seines Daseins sich in annehmbaren Formen vollziehen werden. ... So kommt zum Beispiel der Kampf zweier Menschen, die in ein Gespann sich gezwängt haben und nun sich an den Geschirren und aneinander wundreiben, bei denen vom gesicherten Leben doch nicht bis zu den letzten Tiefen seelischer Bitterkeit. Die meisten meiner Bekannten haben — sofern sie zum gesicherten Leben gehörten — den Luxus zum mindesten einer Ehescheidung sich leisten können, während die Ehe bei denen vom ungesicherten Leben naturgemäss stets eine Quälerei ohne Ende bedeutete.
Selbst der Tod wird erst bei dem Mann vom gesicherten Leben fünf Professoren und einen grossen Operateur fragen, ob er anklopfen darf, oder ob er vielleicht in einem Vierteljahr in irgend einem Sanatorium, fernab inmitten von Tannenwäldern, in der Nachbarschaft der Gletscher, in der Sonne Ägyptens oder über den zackigen Klippen der Adria noch einmal nachfragen soll ... allwo für ihn alles vorbereitet ist, damit sich seine Arbeit geräuschloser und weniger störend für die Umgebung vollziehen kann. Während er bei dem Mann vom ungesicherten Leben sich nicht erst lange mit der Vorrede aufhält, der Tod, sondern meist fest zupackt, ohne jenem Zeit zu lassen, die Sielen von den müden Schultern zu werfen. Und das ist gut so. — Denn es wäre selbst für eine Institution, wie der Tod ist, allzu grausam, wenn sie dem Manne vom ungesicherten Leben noch viel Zeit zum Rückdenken über sein Dasein liesse.
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