Und vielleicht kommt auch — wenn selbst anders! — in die Nähe dieser Erwägungen die Erinnerung an zwei Leute, die von dem am stärksten gezimmerten aller gesicherten Leben kamen, um später ganz andere Lieder zu singen: an Moritz von Egidy, den prächtigen Phantasten, der im Wort die Menschheit zu dem bekehren wollte, was der Hauptmann Fritz von Uhde der Welt mit seinem Pinsel predigte. In Italien traf ich einmal einen alten Mönch, der mir sagte, dass er einst in Spandau Reiteroffizier gewesen, und dass sein Jetzt und sein Einst keineswegs unüberbrückbar getrennt wären.
Religionen des ungesicherten Lebens gibt es! So habe ich eigentlich nie recht verstanden, wie das Christentum im Süden entstehen konnte. In einem winterlosen Götterland des gesicherten Lebens. Es ist weit mehr eine nördliche Religion, das Herzensbedürfnis einer armen, sonnenlosen, sorgengequälten Welt. Man male sich aus, sie wäre in den Tropen entstanden oder in Tahiti! Welch ein Nonsens! In Rom konnte sie nicht entstehen, im strahlenden, scheinbar gesicherten. Im hellen Licht griechischen Geistes nicht. Draussen aber, fern draussen in einer versklavten, verkümmerten Provinz, am Rande der Welt, aus einem Volk, das einst gross war, das seit Jahrhunderten schon von Leiden und Armut und durch mächtige Nachbarvölker zerkautet war, das widerhallte vom düstern Gestöhn ekstatischer Propheten — da konnte diese nordische Religion — nichts von glücklichem Heidentum des Südens, lichtarm, sonnenlos, kunstfremd, eine Proletarierreligion, ein Ursozialismus, Antistaat, Mitleidsreligion, diese Religion des ungesicherten Lebens entstehen. Und da sie all das auf einmal war, trug sie jene unerhörte Werbekraft in sich (als die erste, die sich vom Staat, vom König fort an die Massen wandte). Sie war wie eine Pflanze mit geflügeltem Samen, der über die ganze Erde vom Wind getragen wird. Vom Wüstenboden kam sie kahl, zäh, salzig, ausgedörrt, und konnte deshalb einfach überall Wurzel schlagen.
Ach Gott — sie hatte so einen überzeugenden Gedanken, diese Religion: Das gesicherte Leben muss es geben. Es ist uns versprochen, verbrieft, versiegelt. Es wäre sonst Betrug, unser ganzes Sein. Aber wir finden es nicht. Es wird uns nicht. Wie ist das Exempel zu lösen?! Wie ein Ausgleich zu schaffen?! Alles hat sein Widerspiel, seine Vollendung in irrealen Welten. (Indien, Ägypten lehrt dies.) Der Gedanke der ewigen Gerechtigkeit, des Ausgleichs liegt tief in uns, das Gefühl von den beiden Schalen der Wage, die sinken und steigen: Gott und Welt, Geist und Stoff, Leib und Seele. Was hier halb war, wird dortganz. Die Ungesicherten hier werden ihr gesichertes Leben dort finden. Und die Gesicherten (die Reichen, die Starken, die Harten, die Bedrücker, die Sklavenhalter, die ‚blonden Bestien‘, die Herren über Leben, Brot und Tod der anderen) — nun, die werden dann ihr ungesichertes Leben finden. Jede Hemisphäre rundet sich so zur Sphäre. Das ist ja das erste Bild, das über jeder alten Domtür dem Eintretenden entgegenspringt. Und fast stets zeigen diese Reliefs in den Bogen über den Portalen, wie Könige, Äbte, Ritter, die, von den Ketten des Bösen umschnürt, von wilden Teufeln zur Hölle gezerrt werden; während die Guten, die Armen mit seligem Grinsen, das ja in der Gotik der Ausdruck des Vorgeschmacks der himmlischen Freuden ist, sich um ihren Gott scharen. Den Gesicherten wird auf diese Art mit dem Finger gedroht, nicht allzu üppig zu werden, da die Sache sonst zu allerhand peinlichen Unzuträglichkeiten im Jenseits führen könnte. Dem Ungesicherten aber wird der erschütterte Glaube an die Welt zurückgegeben — eine schöne Illusion vermittelt, ohne die er der Hoffnungslosigkeit und Unerträglichkeit des Seins in die Augen sehen müsste. Und zugleich wird ihnen noch jene volle Genugtuung gewährt, die Gesicherten zu den Ungesicherten herabgezogen zu sehen, sich also erhoben und andere aber degradiert zu fühlen. Sie selbst, die Religion, aber behält sich auch die Gesicherten durch Angst und Drohung in der Hand, kann die Schraube fester anziehen, sie lockerer lassen, wie es ihr behagt — — sie schwebt über allem.
Die spätere Spaltung zwischen Norden und Süden in Katholizismus und Protestantismus zeigt weiter nichts, als eine neue Scheidung zwischen gesichertem und ungesichertem Leben. Der Katholizismus, der aus dem Christentum eine Religion des gesicherten Lebens gemacht hatte, und es zwangsläufig machen musste in dem Augenblick, als das Christentum von einer bedrückten Aussenprovinz in das Zentrum der Welt rückte, — der Katholizismus mit seiner Macht, seinem Götterheer von Heiligen, seiner Schönheit, stand im Gegensatz zum harten, engen, ungesicherten, freudlosen Leben vom Norden, das im Schnee als Kurrendejunge vor die Häuser zog, und das instinktiv nach den Erlösungen des Urchristentums wieder suchte.
Und wenn heute im Protestantismus (Jatho!) sich ähnliche Spaltungen vorbereiten, so beweist das nur wieder, dass auch für ihn heute eine ähnliche Konstellation wieder gegeben ist.
Ich sagte, es gäbe Völker des ungesicherten Lebens. Viele. Gewiss viele. Auch die Deutschen muss man nach ihrer Geschichte dazu zählen, und sie haben in der Welt ihre grosse Mission erfüllt und noch zu erfüllen, von der Idee ausgehend — wie mir scheinen will — nicht von der Macht wie andere, (wenn sie auch gewiss recht daran tun, sich ihren bescheidenen Platz an der Sonne nicht verdunkeln zu lassen). — Sie haben diese Aufgabe zu erfüllen, weil sie letzten Grundes ein Volk des ungesicherten Lebens waren und sind, und weil ihre ganze weltumformende Lebenstüchtigkeit bisher in dieser Lebensunsicherheit wurzelte.
Aber, wenn man von Völkern des ungesicherten Lebens spricht; — wer dächte da nicht gleich an die Juden, die Jahrtausende schon als staatenbildendes Volk verschwunden sind, und doch bis heute sich ihre Stosskraft als Rasse (sofern es noch jene Mittelmeerrasse ist, und nicht irgend welches dem Juden assimilierte halbe Slaventum) — als Rasse bewahrt haben; und die — sowie ihnen Entfaltungsmöglichkeiten geboten sind, (wo sie auch sein mögen!) — ein vorwärts drängendes Element der Kultur werden! Man will dem Juden stets einreden, er ist konservativ in der Seele, staatserhaltend, stände auf der Seite des gesicherten Lebens, und kleine saturierte Kreise jüdischer Hochfinanz mögen dem aus Opportunitätsgründen — mit einem leichten Schuss Liberalismus — in der ganzen Welt nicht fernstehen. In Wahrheit gehört wohl auf dem ganzen Erdenrund kein Volk so in seinen allerletzten Wurzeltiefen zum ungesicherten Leben wie die Juden.
Das Beste an den Juden — das hat Tolstoi richtig erkannt, als er sich gegen den Zionismus wandte — liegt darin, dass er nicht staatenbildend ist und dadurch, wenn er zu einer gewissen Stufe gelangt ist, all seine kulturfördernden Kräfte freibekommt, statt sie in Rückständigkeiten staatlicher Institutionen zu verzetteln und sich in tausend staatlichen Hemmungen zu verbrauchen.
Immer in freier Konkurrenz mit Sonderklauseln stehend, ist der Jude — auch in der Wissenschaft, selbst in der Kunst — gezwungen zu Qualitätsleistungen. Von Natur vorwärts drängend, Organisator, ohne Herrennatur zu sein, ohne die fesselnde Tradition eines Landes, ist er darauf angewiesen, neue Wege zu bahnen, da ihm die alten ja auch verschlossen sind. Die Gerechtigkeit erfordert, sie ihm zu öffnen — aber ein geheimes Bedenken sagt uns dabei, dass wir dadurch die Juden und den Staat, in dem sie gerade eingebettet sind, um ihren besten Gewinn betrügen werden.
Ich sagte, es gäbe Parteien des ungesicherten Lebens. Von den Gracchen an, und gewiss längst vor ihnen hat es sie gegeben. Von allen politischen Parteien, die heute im Wettstreit stehen, hat die Sozialdemokratie, als die Partei des ungesicherten Lebens, den weitesten Pendelschwung, den stärksten Elan — ist die Partei. Wenn man von einer Partei spricht, denkt man nur an sie. Sie ist die einzige, von der wir — ob wir für sie oder gegen sie sind! — Zukunftsarbeit erwarten; die einzige, die über beschränkte staatliche Grenzen hinausreicht und letzten Grundes die Sehnsucht nach Lebenserhöhung alles ungesicherten Menschendaseins umfasst ... oder in der Idee (besteht sie noch?) umfassen sollte. Keine Partei hat so den Glauben an eine Sache für sich und ist ihren Anhängern gleich stark zur Religion geworden. Wie oft hat man schon auf den Parallelismus zwischen Urchristentum und Sozialismus hingewiesen! Er erklärt auch dessen werbende Kraft.
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