1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Unter den Krankenschwestern war Christina vor allem für ihre Geschichten bekannt. Sie konnte eigentlich immer über einen spektakulären Fall bei ihren Patienten berichten. Krankheitsverläufe, die sich plötzlich dramatisch entwickelt hatten, bei denen sie aber trotzdem in der Lage gewesen war, die Situation unter Kontrolle zu bringen, oder bei denen sie mit ihrer Fachkompetenz hatte brillieren können. Wenn Christina im Personalraum von ihrer Schicht erzählte, geschah das in der Regel ausmalend und mit einer besonderen Erzählerstimme. Und fast immer gab es jemanden, der kommentierte, wie viel „Pech Christina doch hatte“. Denn das hatte sie. Ganz häufig kam es ausgerechnet in ihren Schichten zu diesen besonders hektischen, lebensbedrohlichen Situationen. Pernille erlebte das regelmäßig aus nächster Nähe.
Die beiden Krankenschwestern hatten häufig Nachtschichten zusammen. Sie wurden schnell zu einem eingespielten Team, das abends ins Krankenhaus kam und gemeinsam mit einer Sozial- und Gesundheitsassistentin die Verantwortung für Akut 3 übernahm, wenn die Abteilung am sparsamsten besetzt war. Normalerweise ging der Dienst von 19:00 bis 7:00 Uhr. Morgens bei der Übergabe an die Tagschicht war Pernille häufig im Personalraum. Und mit der Zeit fiel ihr auf, dass Christinas Geschichten, gleich welchen Inhalts, eigentlich immer nur von einem handelten: von ihr selbst. Nicht die Patienten, denen es schlecht ging, standen im Mittelpunkt, sondern vielmehr Christina und wie sie herausgefunden hatte, was nicht stimmte, und was sie in der Situation getan hatte.
Pernille hatte den Eindruck, dass auch einige der Kolleginnen Christina verdächtigten, ihre Geschichten so sehr zu dramatisieren, dass sie am Ende nicht mehr viel mit dem zu tun hatten, was die Patienten tatsächlich erlebt hatten. Doch wenn Pernille ein Lächeln im Mundwinkel einer Kollegin als Anzeichen dafür deutete, dass diese vielleicht das Gleiche dachte, kam es häufig vor, dass diejenige plötzlich sagte: „Christina ist einfach unheimlich gut.“ Dann fühlte Pernille sich wieder allein mit ihrem Verdacht. Sie konfrontierte Christina nie damit. Da die anderen Christinas Geschichten nur so in sich aufsogen, war eine solche Konfrontation offenbar nicht üblich.
In der Notaufnahme und generell im Krankenhaus ist Galgenhumor beim Personal nichts Ungewöhnliches. Ein Jargon, den man als Außenstehender wohl als unpassend empfunden hätte, wenn man am Personalraum vorbeigegangen wäre und gehört hätte, wie das Pflegepersonal manchmal über Tod, Krankheiten und die Menschen sprach, die in den Zimmern lagen. Menschen, die im Krankenhaus arbeiten, führen meist als Erklärung an, diese Sprache sei Ausdruck einer Art Überlebensmechanismus für das Personal, das jeden Tag mit Krankheiten und Tod zu tun hat und nur aus diesem Anlass mit den Kollegen zusammen ist. Ein Schutzwall gegen die unerträglichen Situationen, die die Angehörigen der Patienten in geringen Dosen erleben, wenn sie im Krankenhaus zu Besuch sind, denen die Angestellten jedoch jeden Tag ausgesetzt sind ‒ jedenfalls an einem Ort wie der Notaufnahme.
In Bezug auf den Galgenhumor sprachen die beiden Krankenschwestern Pernille und Christina in derselben Tonart. Mit demselben Jargon. Ping-Pong. Wenn Pernille heute an die Art und Weise zurückdenkt, in der sie damals mit Christina kommunizierte, fallen ihr vor allem zwei Wörter ein. Und sie denkt: „Badum tisch!“ Es ist das Geräusch eines Schlagzeugs, das die Pointe eines Witzes betont. Darin waren die beiden sehr gut, denn sobald sie ihre weißen Kittel anzogen, waren sie sich nicht zu schade dafür, platte Witze zu reißen, bis man vergessen hatte, dass die Nachtschicht zwölf Stunden gedauert hatte.
Auch wenn die beiden Krankenschwestern gute Kolleginnen wurden, waren sie nie wirklich eng befreundet. Sie schrieben einander SMS, doch darin ging es normalerweise um Patienten in der Abteilung, über die die eine Kollegin die andere nach Feierabend auf den neuesten Stand bringen wollte, weil sie etwas Neues erfahren hatte. Hatten beide zusammen Dienst in Akut 3, nahm Pernille Christina manchmal in ihrem kleinen schwarzen Peugeot 107 mit. Aber das war es auch schon. In der Freizeit trafen sie sich nicht.
Christina hatte etwas an sich. Etwas, das Pernille nur schwer erklären konnte, das aber zu einem zunehmenden Vorbehalt gegenüber ihrer Kollegin führte. Anfangs lag das nur daran, dass Pernille das Gefühl hatte, die kleinen Notlügen von Christina immer besser zu durchschauen, je mehr Erfahrung sie selbst als Krankenschwester hatte. Es machte Pernille wütend, dass ihre Kollegin offenbar alles tat, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Trotzdem war es immer noch in Ordnung für sie, mit Christina zusammen zur Arbeit zu fahren.
Bis Pernille plötzlich diesen Verdacht hatte.
Das erste Mal kam er ihr, als sie etwas mehr als neun Monate in der Abteilung gearbeitet hatte. Als er ihr zum ersten Mal durch den Kopf schoss, war der Verdacht allein so schrecklich, dass Pernille keine Ahnung hatte, wie sie damit umgehen sollte.
*
Zum ersten Mal kam ihr der Verdacht an einem Wochenende Mitte Februar 2015. Pernille musste Freitag, Samstag und Sonntag arbeiten. Dieses Mal in der Abteilung Akut 2. Auch Christina stand im Dienstplan, doch ausnahmsweise würden die beiden Krankenschwestern nacheinander arbeiten: Pernille von 7:00 bis 19:00 Uhr, Christina zusammen mit einer anderen Krankenschwester in der Nachtschicht ab 19:00 Uhr.
An diesem Wochenende gab es mehrere Patienten in Akut 2 mit einem plötzlichen Atemstillstand.
Eine davon war eine ältere Dame, die völlig abwesend und benommen in die Abteilung gebracht und in Zimmer 21 aufgenommen worden war. Pernille konnte anhand ihrer Blutwerte sehen, wie schlecht es um sie stand. Sie waren völlig durcheinander. Doch im Laufe der Schicht gelang es dem Personal, die Patientin zu stabilisieren. Und die Blutproben, die die Krankenschwestern danach in halbstündigen Intervallen nehmen mussten, zeigten, dass es ihr immer besser ging. Eine halbe Stunde, bevor Pernille nach Hause ging, nahm sie die letzte Probe. Sie ergab, dass die Patientin nun offiziell „stabil“ war, und das berichtete Pernille Christina, als die Kolleginnen sich zur Übergabe trafen.
Zwölf Stunden später, als Pernille wieder zur Schicht kam, war die Patientin auf die Intensivstation gebracht worden. Christina berichte, dass sie plötzlich aufgehört hatte zu atmen. Pernille konnte das kaum glauben, doch sie erlebte so etwas an diesem Wochenende noch mehrere Male: Pernille übergab einen Patienten oder eine Patientin in dem Glauben, dass er oder sie auf dem Weg der Besserung war, doch nach dem Schichtwechsel ging es ihm oder ihr plötzlich schlechter.
Da gab es diesen Patienten, der regelrecht panisch eingeliefert wurde, weil er glaubte, die Schmerzen in seiner Brust seien ein Anzeichen dafür, dass sein Herz wieder einmal nicht richtig schlug. Nachdem er an die Überwachungsgeräte in der Abteilung angeschlossen worden war, konnte ihn das Personal glücklicherweise beruhigen, dass alles in Ordnung war. Bis zum Schichtwechsel. Dann begann sein Herz zu rasen, und er wurde auf die Herzstation gebracht.
Da gab es diesen Patienten, der eingeliefert wurde, weil eine bestehende Infektion in seinem einem Bein jetzt so fortgeschritten war, dass sie ihn lethargisch machte. Das Bein war praktisch weggefault. Doch der Mann in den Siebzigern weigerte sich, das Bein amputieren zu lassen, obwohl es seine einzige Option war, um gesund zu werden. Höchstwahrscheinlich würde ihn seine Sturheit irgendwann umbringen. Irgendwann. Das war Pernilles Einschätzung, als sie den Patienten aufnahm und ihm und seinen Angehörigen erklärte, sie würden Flüssigkeit gegen die Dehydrierung geben und Antibiotika gegen die Infektion. Doch diese Behandlung würde die Infektion nicht heilen. Am Ende würde sie tödlich sein. Irgendwann, glaubte Pernille. Bis sie hörte, dass der Mann in einem Einzelzimmer gestorben war, nur ein paar Stunden, nachdem die Nachtschicht übernommen hatte.
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