Kristian Corfixen
Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark
Übersetz von Ricarda Essrich
Saga
Die Krankenschwester ‒ der spektakuläre Kriminalfall aus Dänemark
Übersetzt von Ricarda Essrich
Titel der Originalausgabe: Sygeplejersken - En af Danmarkshistoriens mest spektakulære drabssager
Originalsprache: Dänisch
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 2021 Kristian Corfixen und SAGA Egmont
Zitat aus H.C. Andersens „Das ist wirklich wahr“ mit freundlicher Genehmigung von hekaya.de.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726813425
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Ich habe nie selbst mit Christina Aistrup Hansen zusammengearbeitet. Ich war zu keiner Zeit vor Ort, wenn sie als Krankenschwester am Krankenhaus Nykøbing Falster gearbeitet hat.
Trotzdem erlaube ich mir, eine lange Reihe an Ereignissen aus ihren Jahren im Krankenhaus detailliert zu beschreiben. Das tue ich vor dem Hintergrund von mehr als dreitausend Seiten an Dokumenten zu den sogenannten Krankenschwester-Morden. Es handelt sich um Dokumente, zu denen ich über Akteneinsicht oder auf andere Weise Zugang erhalten habe: Patientenakten, Obduktionsberichte, forensische Analysen, SMS- und E-Mail-Korrespondenz, Expertengutachten, Protokolle von Gerichtsverhandlungen, Medikamentenlisten, Screenshots aus den IT-Systemen des Krankenhauses, Fotos, Verhörprotokolle und Polizeiberichte, die – jedenfalls was den Großteil des Materials betrifft – bislang nur für die Polizei, die Gerichte und die am Fall beteiligten Parteien zugänglich waren.
Bei meinem Versuch zu beschreiben, was in Nykøbing Falster vorgegangen ist, spielten vor allem die Verhörprotokolle der Polizei eine große Rolle. Denn so erhielt ich Einblick in über hundert Aussagen vor allem von Krankenhausangestellten, die den einen oder anderen Baustein zur Rekonstruktion der Ereignisse beitrugen, an deren Ende das Gerichtsverfahren gegen Christina Aistrup Hansen stand. Über siebzig Personen mussten vor Gericht aussagen. Auch ihre Erläuterungen dienten mir als wertvolle Grundlage für meine Schilderung. Darüber hinaus basiert das Buch auf Gesprächen mit über fünfzig Personen, die ich – teilweise mehrmals – interviewt habe. Dazu gehören Pflegekräfte, ärztliches Personal, Experten, Rechtsanwälte, Polizeibeamte, Familie und Bekannte der Hauptpersonen dieses Falles sowie Angehörige der Opfer. Und natürlich die Hauptfiguren selbst, die ich zitiere und mit vollem Namen nenne. Unter anderem habe ich Christina Aistrup Hansen mehrmals im Gefängnis besucht und die Kronzeugin des Prozesses Pernille Kurzmann Larsen befragt. Denn erst der Verdacht dieser Krankenschwester hat dazu geführt, dass die Polizei die verdächtigen Todesfälle im Krankenhaus Nykøbing Falster überhaupt untersucht hat, und sie hatte einen großen Anteil daran, dass ihre Kollegin schließlich wegen versuchten Mordes an Patienten verurteilt wurde.
Nahezu alle Pflegekräfte aus dem Krankenhaus Nykøbing Falster, mit denen ich in Kontakt stand, hatten zunächst große Vorbehalte und fragten mich: „Aus welcher Perspektive wollen Sie den Fall schildern?“
Jedes Mal antwortete ich: „Ich will beide Seiten beleuchten.“
Denn es gibt zwei Seiten. Zwei Lager, wenn man so will. In dem einen diejenigen, die bis heute der Ansicht sind, dass Christina Aistrup Hansen von zwei Gerichtsinstanzen unschuldig verurteilt wurde und eigentlich Opfer von Klatsch und Tratsch im Provinzkrankenhaus geworden ist. In dem anderen diejenigen, für die kein Zweifel besteht, dass Christina während ihrer Schichten bewusst versucht hat, Patienten zu töten. Vielleicht sogar noch mehr als die vier, für die die Krankenschwester derzeit eine Gefängnisstrafe absitzt.
Ich möchte betonen, dass weder Christina Aistrup Hansen noch Pernille Kurzmann Larsen – oder andere Personen – Einfluss darauf hatten, wie ich die Episoden in diesem Buch beschreibe oder gewichte. Niemand erhielt eine Bezahlung oder hatte die Möglichkeit zur Korrektur, wenn er oder sie sich dafür entschied, mit mir zu sprechen.
Das Buch basiert also auf einem gängigen journalistischen Verfahren. Ich habe so weit wie möglich versucht, die Informationen meiner Quellen einem Faktencheck zu unterziehen. Wenn ich auf Widersprüche gestoßen bin oder auf etwas, das nicht mit den Informationen in den Dokumenten übereinstimmte, habe ich es weggelassen, sofern es für die Schilderung nicht relevant war. Ansonsten habe ich an den entsprechenden Stellen auf etwaige Unstimmigkeiten hingewiesen. Und ich habe versucht, für den Leser kenntlich zu machen, wenn es sich um eine Behauptung handelt, die die Polizei trotz der umfangreichen Ermittlungen nie bestätigen oder entkräften konnte.
Natürlich weiß ich, dass einige Leser dieses Buches ein anderes Verständnis der beschriebenen Ereignisse haben werden. Viele Menschen haben eine Meinung zu den Krankenschwester-Morden. Selbst Urteile des Stadtgerichts und des Landgerichts konnten nichts daran ändern, dass sich bis heute unzählige teils sehr kreative Theorien um den Fall ranken. Bei meiner Arbeit bin ich auf viele Menschen gestoßen, die ihr Verständnis von den Ereignissen auf eine völlig verdrehte Auffassung dessen stützten, worum es bei dem Fall tatsächlich geht. Vielleicht, weil sie nur die Überschriften oder zwei oder drei der mehreren Tausend Artikel gelesen haben, die darüber geschrieben wurden, und ansonsten nur mit den Menschen diskutieren, mit denen sie sich tagtäglich umgeben. Oder weil sie etwas von jemandem gehört haben, der jemanden kennt, der jemanden kennt. Hoffentlich kann dieses Buch zu einem umfassenden, nüchternen Blick auf einen der spektakulärsten Mordprozesse der dänischen Geschichte beitragen.
Der Fall hatte weitreichende Konsequenzen, nicht nur für die vier Patienten, für deren Tötung Christina Aistrup Hansen rechtskräftig verurteilt wurde. Kolleginnen und Kollegen aus dem Krankenhaus Nykøbing-Falster kämpfen immer noch mit Schuldgefühlen, weil sie trotz ihres Verdachts nicht früher gehandelt haben. Da sind die Angehörigen der Patienten, die zu Mordopfern wurden, während sie in einem Krankenhausbett lagen und auf das Gesundheitswesen vertrauten. Da sind Eltern, die in den nächsten Jahren ihre Tochter im Gefängnis besuchen müssen. Und da ist ein gerade einmal elfjähriges Mädchen, das seine Mutter verloren hat.
Die Krankenschwester-Morde sind ein in jeder Hinsicht tragischer Fall. Und das nicht zuletzt deshalb, weil die Täterin viel zu lange unbehelligt agieren konnte. Ich hoffe, dass dieses Buch dazu beiträgt, dass wir den Fall nicht vergessen, sondern daraus lernen.
Kristian Corfixen
Kopenhagen, im Januar 2019
Die Leitstelle nahm den Anruf um vier Minuten vor Mitternacht entgegen. Am Telefon war eine Ärztin aus dem Krankenhaus Nykøbing Falster, die einen ungeklärten Todesfall melden wollte. Ein Routineverfahren. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Arzt die Behörden verständigt, wenn ein Patient plötzlich verstirbt und sich dafür in der Patientenakte keine plausible Erklärung finden lässt.
Bei Arne Herskov war das der Fall. Die Ärztin hatte ihn vor etwas mehr als zwei Stunden für tot erklärt, wie sie am Telefon erläuterte.
Der Diensthabende notierte das Datum – 4. März 2012 – und die Zusammenfassung der Ereignisse durch die Ärztin:
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