Sein jüngerer Bruder Kenny hatte dafür gesorgt, dass Arne ins Krankenhaus kam. Vielleicht hat Arne an diesem Tag das Geräusch von Kennys beigem Peugeot gehört, als dieser in seine Auffahrt fuhr. Der Bruder hatte eigentlich vorgehabt, noch ein wenig im Auto sitzen zu bleiben und Radio zu hören, denn gerade wurde das nachmittägliche Freitagsspiel übertragen. Er wollte den Rest des Spiels vom Fahrersitz aus hören, bevor er in die Februarkälte ausstieg und langsam über den Rasen zur Haustür ging, um Arne zu besuchen. Doch als Kenny den Motor abstellte, konnte er Arnes Rufen hören. Er rief im Haus um Hilfe.
Kenny fand ihn auf dem Boden des Badezimmers. Sein Bruder war gestürzt, er lag benommen und verwirrt da und konnte nicht sagen, wie lange er auf den Fliesen gelegen hatte, ohne aufstehen zu können. Er war unterkühlt. Kenny rief sofort die 112 an. Der Rettungsdienst kam schnell. Und der Peugeot war immer noch warm, als er den Schlüssel in die Zündung steckte und dem Krankenwagen folgte, der sich in westlicher Richtung über die Insel Falster bewegte. An dem Tag, als der Krankenwagen mit Arne davonfuhr, hatte sich niemand vorstellen können, dass er nie mehr in das kleine Haus im Falkevej zurückkehren würde.
Er kam nachmittags im Krankenhaus an. Unter den gerade einmal 61 kg des Patienten sank die Matratze kaum ein, als dieser in ein Bett auf der Intensivstation gelegt wurde. Arne war untergewichtig. „Mager“, notierte der Arzt in der Patientenakte. Außerdem vermerkte das Personal, dass Arne unter Flüssigkeitsmangel und niedrigem Blutdruck litt. Seine Werte deuteten auf eine Lungenentzündung hin. Der Arzt entschied, Arne solle dreimal täglich Antibiotika bekommen, um die erhöhten Infektionswerte in den Griff zu bekommen. Wie das Personal später Kenny und seinen drei Geschwistern erklärte, würde sich die Behandlung vor allem darauf konzentrieren, dass Arne ein paar Kilos auf die Rippen bekam. „Ernährungstherapie“, lautete die Verordnung in Arnes Patientenakte. Gleichzeitig würden die Krankenschwestern dafür sorgen, dass er viel Flüssigkeit bekam.
Arne war es gewohnt, Flüssigkeit zu sich zu nehmen, jedoch nicht Flüssigkeit der Art, die an einem Infusionsständer neben seinem Bett im Krankenhaus aufgehängt wurde: Er liebte Bier. Arne transportierte es im Korb seines dreirädrigen Scooters nach Hause, wenn er beim Schlachter Schous in Marielyst gewesen war, um Fertiggerichte zu kaufen, die er zu Hause im Ofen aufwärmen konnte. Und auch wenn Arne im Sommer vor dem Imbiss am Sildestrup Strand saß, standen die grünen Flaschen geöffnet neben ihm. Immer Carlsberg aus der Flasche, erinnert sich der Besitzer des Kiosks neben der Bank, auf der Arne Stunden zubringen konnte, während die Sonne sein rotblondes Haar zum Leuchten brachte. Er vermisst den Kunden, dem man immer gut zuhören konnte, egal, wie viel Bier er getrunken hatte. Viele erinnern sich an Arne wegen des Biers. Dass er viel trank. Doch wenn man seine Schwester Birthe fragt, ob er Alkoholiker war, antwortet sie mit Nein.
„Niemals“, sagt sie. „Er hat einfach das Leben genossen.“
Das war auch für die Ärzte zu sehen, als im Krankenhaus Nykøbing Falster die ersten Testergebnisse kamen. Der Körper des Patienten war gezeichnet. Vor allem vom Alkohol, der seine Spuren in Arnes Leber hinterlassen und sie massiv geschwächt hatte. Aber auch von den Zigaretten. Einmal erzählte Arne einem Arzt, dass er etwa dreißig bis vierzig Stück pro Tag rauchte, seit er fünfzehn war. Auch das wurde in der Patientenakte notiert. Ebenso wie der Husten. Der Husten, der im Falkevej die Nachbarn auf der anderen Straßenseite beim Kaffee ausrufen ließ: „Aha, Arne ist zu Hause.“
Zwischen Sommerhäusern und frisch gestrichenen Ganzjahresunterkünften aus Holz wohnte Arne an der Ecke der baumbestandenen Straße. Ursprünglich war sein Heim ein Bauwagen gewesen, dem jedoch vor einigen Jahren ein Anbau aus Gasbetonsteinen gewachsen war. Darin gab es Platz für einen Ofen, der durch den kleinen Schornstein auf dem Dach abends schwarzen Rauch über die Baumkronen auspustete, sobald es kälter wurde. Von der Haustür aus waren es nur ein paar hundert Meter bis zum Strand. Aber Arne hielt sich meist drinnen auf – wenn er nicht gerade mit dem Scooter unterwegs war. Die Nachbarn bekamen nur etwas von ihm mit, wenn er aus seiner Einfahrt fuhr oder gerade nach Hause kam. Hatte man das Glück, richtig begrüßt zu werden – bei den Zugezogenen konnten gut und gerne ein paar Jahre vergehen, bevor es dazu kam –, konnte man feststellen, dass der Einsiedler tatsächlich recht redselig war.
Er hatte streitbare Ansichten. Besonders ernst wurde Arne, wenn er über Pflegeheime und die Art und Weise sprach, wie die Gesellschaft die Alten behandelte. Und nicht wenige in seiner Familie hatten sich seine Ansichten zu Drogen – Narkotika ‒ anhören müssen, denn deren Konsum hatte Arne sein ganzes Leben lang verurteilt. Er hatte nie verstanden, warum Menschen diesen Weg einschlugen. Milder wurde er, wenn er von seiner Jugend erzählte, davon, wie er bereits als Teenager auf Schiffen mit dem Maersk-Logo auf der Seite um die ganze Welt gefahren war. Davon, wie seine Geschwister und er zwischen den Kneipen von Nørrebro aufwuchsen. Davon, wie Arne – bevor er bei der Müllabfuhr anfing – Blumen und Gemüse auf dem Grøntorvet in Kopenhagen verkauft hatte, dem Ort, wo er in der Raucherkneipe direkt nebenan seine zukünftige Frau getroffen hatte.
Seine Laune ähnelte der Atmosphäre in einer Kneipe ein paar Stunden vor der Sperrstunde. Er liebte Feste, und er war bekannt dafür, in Gesang und Seemannslieder zu verfallen, wenn er sich wohlfühlte. Auch wenn er allein zu Hause saß und einer seiner Brüder unangemeldet vorbeikam und ihn mit einer Portion Biksemad vom Schlachter vorfand – seinem Leibgericht. Aber in letzter Zeit hatte sich das verändert. Arne war unglücklich gewesen.
Es heißt, nichts träfe einen Menschen tiefer als der Verlust eines Kindes. Ein paar Monate, bevor er im Badezimmer stürzte, erhielt Arne die Nachricht, dass sein einziger Sohn Jimmy gestorben war.
Der Verlust von Jimmy wurde zu seiner größten Tragödie. Er hinterließ ein tiefes Loch und einen Kloß im Hals, den der Rentner einfach nicht herunterspülen konnte – egal, wie viel Bier er auch trank.
In der letzten Zeit hatte er seinen Geschwistern gegenüber keinen Hehl daraus gemacht, dass er aufgegeben hatte. Arne war sehr traurig. Er hatte es satt, allein zu sein, sagte er. Und wie viel Brennholz die beiden Brüder in diesem Winter auch für ihn beschafft hatten, gelang es Arne dennoch kaum, Dinge zu finden, die sein Herz erwärmten. Selbst für die Fertiggerichte konnte er sich nicht mehr begeistern. Im Grunde brachte er nur noch Bier herunter. Die gute Laune ertrank. Für Arnes Geschwister war es sehr belastend, das mit anzusehen. Daher war es für die ganze Familie eine Beruhigung, als er ins Krankenhaus kam und dort von Fachleuten umgeben war, die sich nun um ihn kümmern konnten.
Bei seiner Aufnahme zitterte Arne und war blass. Er friere so sehr, sagte er wieder und wieder zu den Krankenschwestern. Doch es war schnell klar, dass keine Lebensgefahr bestand.
„Das größte Problem ist wahrscheinlich, dass der Patient einen Monat lang nicht gegessen hat‟, notierte ein Oberarzt nach drei Tagen auf der Intensivstation in Arnes Krankenakte. Und an Tag vier war sein Zustand nicht mehr kritisch, sodass er auf Station M130 verlegt werden konnte. Hier sollte sich das Personal nun darum kümmern, dass er zunahm.
Station M130 ist voller Patienten, deren Zustand ziemlich schlecht ist. In den Zimmern liegen vor allem Menschen mit Magen- und Darmerkrankungen, darunter auch einige Krebspatienten. M130 ist außerdem die Station, auf die Alkoholiker oder andere Süchtige kommen. Die mit einer geschwächten Leber. Auf Entzug. Diejenigen, die sonst auch noch mit anderen Dingen im Leben zu kämpfen haben als bloß mit der Diagnose, die sie ins Krankenhaus gebracht hat. Auf dieser Station liegen die „harten Fälle“, wie die Pflegekräfte es ausdrücken. Für die harten Fälle ist es nicht ungewöhnlich, auch zweimal oder öfter eingewiesen zu werden. Einige von ihnen sind bereits bekannte Gesichter, wenn das Personal sie auf ihr Zimmer bringt. Und meist bleiben sie auch länger als die Patienten im anderen Krankenhausflügel, manchmal sogar mehrere Wochen.
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