In den Notizen der Beamten wurde außerdem festgehalten, dass Christina am Wochenende „Gruppenleiterin“ gewesen sei, was bedeutete, dass sie sämtliche Medikamente, die auf den Zimmern verabreicht wurden, genehmigen musste. Arne hatte Lebermedikamente und Vitamine erhalten, während er auf Station M130 lag. Das sei alles gewesen, erklärte Christina.
„Die Befragte erklärte, der Verstorbene habe auf der Station keines der Medikamente erhalten, die die Urinproben ergeben hätten. Andernfalls hätten sie das gewusst“, berichtete der Polizeibeamte von der zwanzigminütigen Vernehmung der Krankenschwester.
Keiner der Kollegen deutete gegenüber der Polizei einen Verdacht gegen Christina an. Auch nicht Ida oder Nina, die sich entschieden hatten, den Beamten nichts von ihrem Fund im Todesfallheft und ihrem Verdacht gegen die Kollegin zu erzählen.
Das Krankenhaus leitete eine interne Untersuchung zur Aufklärung ein. Diese endete mit der Feststellung, dass Arne auf der Station Zugang zu Drogen gehabt haben müsse und eigenhändig eine Überdosis genommen habe. Die Schlussfolgerung wurde auch Arnes Hinterbliebenen mitgeteilt, für die das Ganze jedoch überhaupt keinen Sinn ergab. Das konnte nicht sein, Arne war doch immer ein Gegner von Drogen gewesen.
Das Krankenhaus Nykøbing Falster liegt als kleinstes Krankenhaus der Region Seeland in einer Ecke der dänischen Landkarte, in der die Menschen statistisch gesehen überdurchschnittlich häufig krank sind.
Wenn man Ärzte, die auch an anderen Orten gearbeitet haben, nach dem ersten fragt, das ihnen in dem Provinzkrankenhaus aufgefallen ist, antworten sie meist: In Nykøbing Falster sieht man viele Patienten mit mehr als einer Diagnose. Patienten, die sozial gefährdet sind und mit erheblich mehr Problemen zu kämpfen haben als nur denen, die in einem Krankenhausbett behandelt werden können. Patienten, die als krasses Beispiel dafür dienen können, was passiert, wenn man seine Beschwerden zu lange ignoriert. Es sind in der Regel „schwerere Fälle“, wie man sie im südlichsten Krankenhaus des Landes nennt. Solche Patienten sind auf Lolland besonders überrepräsentiert.
In der flachen Landschaft von Dänemarks viertgrößter Insel stehen die günstigsten Quadratmeter zum Verkauf. Dies hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass Lolland zu einer Art Endstation für viele geworden ist, die es sich nicht leisten können, woanders zu wohnen. Medienberichten zufolge wurde diese Entwicklung von den Gemeinden rund um Kopenhagen gefördert. Man fand heraus, dass die Sachbearbeiter der dortigen Behörden häufig auf Lolland als Umzugsziel verweisen, wenn ein Kunde behauptet, er könne sich die Miete nicht mehr leisten. So ist die Insel zu einem Ort geworden, an den die reicheren Gemeinden benachteiligte Familien „abschieben“. So jedenfalls drückte es ein frustrierter linker Stadtrat aus, als er und seine Kollegen im Rathaus von Nakskov vor ein paar Jahren aufdeckten, was die Gemeinden der Hauptstadtregion trieben.
Seit den 1990er-Jahren sind außerordentlich viele Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose über die Brücken nach Lolland gekommen, während junge Menschen und wohlhabende Familien in die Gegenrichtung strömten. Und in der Folge hält Lolland jetzt den dänischen Rekord bei Zwangsräumungen und Jugendarbeitslosigkeit und hat den höchsten Anteil an Sozialhilfeempfängern. Wenn es um ungesunde Lebensweise geht, steht die Inselgemeinde ebenfalls an der Spitze der Statistik, in der niemand Spitzenreiter sein möchte. Die neuesten Zahlen kamen 2017 heraus, als die dänische Gesundheitsbehörde ihren großen Bericht über Gesundheit, Krankheit und Wohlbefinden der Dänen veröffentlichte. Wieder wurde Lolland mit einer Reihe neuer trauriger Zahlen konfrontiert. Dem Bericht zufolge hat Lolland den höchsten Anteil an Menschen, die die Mindestempfehlungen für körperliche Aktivität nicht erfüllen. Hier leben die meisten Menschen, die selten oder vielleicht nie Kontakt zu Freunden haben. Lolland hat den höchsten Anteil an stark übergewichtigen Menschen. Die meisten Raucher. Nicht zu vergessen diejenigen, die Diabetes, Rücken- oder Lendenwirbelschmerzen haben oder an einer chronischen Erkrankung leiden. Hier ist Lolland in allen Kategorien unter den Top 3.
Im Rathaus ist man es leid, dass die Inselgemeinde nur mit Problemen in Verbindung gebracht wird, genauso wie in der Gemeinde Guldborgsund, wo fast die Hälfte der Patienten des Krankenhauses Nykøbing Falster leben. Und auch im Krankenhaus sieht man das so.
Fragt man beim Krankenhausmanagement nach Dingen, auf die man stolz ist, antwortet die Büroleitung mit des Managements folgenden sechs Punkten: ein „schönes neues Gebäude“, das kürzlich eingeweiht wurde, eine „gut funktionierende Notaufnahme“ und die Tatsache, dass das Krankenhaus in den sogenannten „klinischen Qualitätsdatenbanken“ in mehreren Bereichen „gut abschneidet“. Die Kinderstation wird von den Patienten gelobt. Und dann die letzten beiden Punkte auf ihrer Liste: Seit Kurzem gibt es Doktoranden im Krankenhaus, und junge Ärzte und Studierende der Universität Kopenhagen bewerten die Ausbildung als grundsätzlich „sehr gut“.
Die tausendvierhundert Beschäftigten können sich zudem rühmen, dass ihr Arbeitsplatz am Stadtrand von Nykøbing Falster immer wieder als Eckpfeiler der Gesellschaft hervorgehoben wird. Für insgesamt hundertfünfzigtausend Menschen ist das Krankenhaus auf Falster die Anlaufstelle, wenn sie krank werden. Und wenn es das Krankenhaus mit seinen zweihundertsiebzig Betten nicht gäbe, wäre die nächste Alternative weit weg. In der Tat hat kein anderes Krankenhaus in der Region Seeland Patienten aus einem so großen geografischen Gebiet zu versorgen wie das kleinste Krankenhaus der Region. Aber egal, wie viel Gutes die Ärzte und Pflegekräfte und all die anderen Mitarbeiter jeden Tag tun, es ist, als ob sich die Leute immer nur an die schlechten Geschichten über das Krankenhaus Nykøbing Falster erinnern. Mehrmals wurde es zu einem der Orte im Land gewählt, an denen mehr Patienten sterben als erwartet. Im Jahr 2010 setzte die Zeitung B.T. das Krankenhaus Nykøbing Falster auf den zweiten Platz auf der Liste der „tödlichsten Krankenhäuser Dänemarks“. Zwei Jahre später vergab Ekstra Bladet den Titel „Dänemarks schlechtestes Krankenhaus“. Und dann gibt es noch die Berichte aus dem Jahr 2016, in denen es hieß, die Region habe die Operationen in der Abdominalchirurgie des Krankenhauses einstellen müssen, weil es zu viele schwerwiegende Fehler gab. So etwas war schlecht fürs Renommee. Wieder eine dieser Geschichten, die den Direktor des Krankenhauses dazu veranlassten, sich an die Medien zu wenden und zu versichern, die Patienten könnten sich gefahrlos zur Behandlung ins Krankenhaus Nykøbing Falster begeben. Nicht zum ersten Mal, und seither hatte er sich noch mehrere Male zu so einem Schritt gezwungen gesehen. Jedes Mal zulasten des Selbstbewusstseins des kleinen Krankenhauses.
Ein weiteres Problem im Krankenhaus Nykøbing Falster ist die Personalbeschaffung. Sicher, da ist die Schule für Gesundheits- und Krankenpflege am anderen Ende der Stadt, die wie ein Magnet wirkt und jedes Jahr einen neuen Jahrgang Pflegepersonal hervorbringt, das in erster Linie aus der näheren Umgebung kommt. Aber bei ärztlichem Personal ist die Sache komplizierter.
Wenn unter den angehenden Ärzten ausgelost wird, wo im Land sie ihr praktisches Jahr ableisten, bevor sie auf den Arbeitsmarkt losgelassen werden, gehört das Krankenhaus Nykøbing Falster meist zu den unbeliebtesten Häusern in der Region Seeland. Und wenn sie dann bereit für eine Festanstellung sind, richten zu wenige von ihnen ihr Augenmerk auf den Süden. Das Krankenhaus Nykøbing Falster muss daher oft auf Aushilfskräfte zurückgreifen oder ausländische Ärzte anwerben, um einen funktionierenden Dienstplan zu gewährleisten. Dieses Problem wurde oft als Erklärungsansatz dafür herangezogen, warum es in der Chirurgie des Krankenhauses so viele Fehler gegeben hatte.
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