Die Station besteht aus zwei Gängen – dem 30er-Gang und dem 50er-Gang –, die rechtwinklig angeordnet sind, jeweils mit Zimmern auf beiden Seiten. Arne erhielt ein Zimmer auf dem 30er-Gang direkt gegenüber der Toilette. Anfangs machte der Patient auf das Personal einen recht stillen Eindruck. Er war jemand, der am liebsten einfach nur daliegen und schlafen wollte. Jemand, der weder Lust auf noch Kraft für etwas anderes hatte. Doch im Laufe der Zeit bemerkten viele, dass Arne allmählich auflebte.
„Der Patient zeigt heute mehr Mimik und spricht spontaner“, stand vier Tage nach seiner Aufnahme in seiner Akte. Am selben Tag ergänzte eine Krankenschwester auf M130:
„Setzt sich selbstständig im Bett auf und isst, was ihm gebracht wird.“
Arne hustete immer noch, ihm wurde häufig schwindelig und er würde noch eine Weile Sauerstoff über einen Schlauch und Essen über eine Sonde erhalten. Doch es fiel ihm immer leichter, zusätzlich etwas zu sich zu nehmen.
„Zeigt allmählich wieder Appetit und isst mehr“ und „Hat heute von sich aus nach Essen gefragt“, notierte das Personal in seinen Unterlagen in den darauffolgenden Tagen.
Die Sozial- und Gesundheitsassistentin Louise stellte außerdem fest, dass sich nach und nach auch Arnes Stimmung besserte, während er gleichzeitig ein wenig zunahm. Als sie den Patienten auf Zimmer 134 zum ersten Mal getroffen hatte, hatte er ihr von Jimmys Tod erzählt und gesagt, er wisse nicht, ob er noch länger leben wolle. Wenn Ärzte und Schwestern hereinkamen, um nach Arne zu sehen, erzählte er häufig von seiner Tragödie. Es finden sich mehrere Einträge in seiner Patientenakte, dass er depressiv wirkte. Doch eines Tages erwähnte Arne Louise gegenüber, dass er sich auf Zuhause freue. Er befand sich seit fast zwei Wochen im Krankenhaus, und in den letzten Tagen hatten mehrere Personen auf der Station Arnes Veränderung bemerkt. Er schien insgesamt besser gelaunt zu sein. Er redete mehr. War häufiger wach. Schließlich hatte sich sein physischer Zustand so gut entwickelt, dass das Personal vor dem Wochenende begonnen hatte, über den Plan für seine Entlassung zu sprechen.
In seiner Akte notierte eine Krankenschwester am Donnerstag, den 1. März 2012, dreizehn Tage nach Arnes Aufnahme im Krankenhaus:
„Patient wird voraussichtlich Anfang nächster Woche entlassen.“
Als Kenny freitags auf dem 30er-Gang zu Besuch war, konnte er sehen, dass die Behandlung zu wirken schien: Sein Bruder machte zwar immer noch einen leicht verwirrten Eindruck, aber er hatte zugenommen. Seine Nichte Marie-Louise bemerkte, dass ihr Onkel fröhlicher war. Er schien munter zu sein, lächelte, alberte sogar herum und gab eine Räuberpistole zum Besten, als sie zu Besuch war.
Seine beiden anderen Geschwister, Birthe und Vagn, besuchten ihn am Samstag, Arnes sechzehntem Tag im Krankenhaus. An seinem Bett berichteten sie ihm, dass das Haus im Falkevej für seine Entlassung vorbereitet war: Die Schwägerin hatte Bettzeug und Gardinen gewaschen und alles hübsch hergerichtet.
Doch Arne war immer noch zu dünn. Auf dem Gang erfuhr Birthe von einer Krankenschwester, am besten würde man ihren Bruder zunächst an einen Ort bringen, an dem jemand dafür sorgen konnte, dass er immer genug aß. Vielleicht ein Pflegeheim oder eine andere Form der Unterstützung. Vielleicht würden ein paar Tage reichen, dann könne er wieder nach Hause kommen. Arnes Bruder Vagn saß auf der anderen Seite des Bettes und lächelte, als Birthe Arne diesen Plan präsentierte. Sie wussten genau, wie er reagieren würde, denn sie erinnerten sich sehr deutlich daran, wie er immer über die Altenpflege in Dänemark gesprochen hatte: Es sei ein Ort, an den man keinen Menschen schicken sollte.
„Wäre ich im fünften Stock, würde ich jetzt aus dem Fenster springen“, erinnert sich Birthe an Arnes Antwort. Sie lächelt, als sie an den Tag zurückdenkt. So etwas zu sagen, war typisch für ihn.
Am Tag nach Birthes und Vagns Besuch fing das Personal auf Station M130 um kurz nach 9 Uhr an, sich auf den sonntäglichen Vormittagskaffee vorzubereiten. Zwei Stunden vorher war Schichtwechsel gewesen. Die Kolleginnen Ida und Nina waren nach Hause gegangen, die Sozial- und Gesundheitsassistentin Louise war zusammen mit den Pflegekräften Peter und Christina eingetroffen. Als eine der ersten Amtshandlungen in ihrer Schicht hatte Louise Arne Brotsuppe mit Sahne gebracht, und sie hatten vereinbart, dass sie ihm später am Tag beim Baden helfen würde. Dann hatte sie ihn im Zimmer allein gelassen, damit er in Ruhe essen konnte. Und als sie eine Viertelstunde danach zurückkehrte, hatte Arne über seinen leeren Teller hinweg gefragt: „Und, zufrieden?“ Er hatte aufgegessen. Er hatte gelächelt. Er schien tatsächlich seine gute Laune zurückzubekommen.
Die anderen Pflegekräfte, die wie Louise um 7:00 Uhr eingetroffen waren, hatten längst die Patientenakten studiert und die Morgenrunde absolviert. Schwester Christina war für die Verteilung der Tabletten an die Patienten zuständig und ging daher gerade durch die Zimmer, um Patienten mit den Medikamenten zu versorgen. Währenddessen war Peter ebenfalls bei Arne gewesen, hatte das Bett bezogen und frische Handtücher gebracht. Außerdem hatte er Arnes Werte gemessen – Temperatur, Blutdruck, Atmung, Puls und Sauerstoffgehalt des Blutes. Nichts Auffälliges. Genau, wie die Nachtschicht bei der morgendlichen Übergabe berichtet hatte.
Peter hatte seine Runde als erster beendet und begann daher gegen 9:00 Uhr, im Personalraum für die anderen Pflegekräfte Kaffee zu machen. Sie frühstückten immer mit dem Personal vom 50er-Gang zusammen, nachdem die ersten Routineaufgaben erledigt waren. Allmählich trafen die anderen ein. Es schien eine ruhige Schicht zu werden. Keine Patienten, denen es akut schlecht ging.
Doch dann ertönte der Alarm. Jemand hatte in einem der Zimmer zweimal an der Schnur gezogen, sodass der Herzalarm ausgelöst wurde. Peter, Louise und die anderen liefen den 30er-Gang herunter und bogen links durch den roten Türrahmen in Zimmer 134 ab. Ihre Kollegin Christina saß mit dem Rücken zum Eingang auf der Kante des ersten Bettes. Sie hatte Arnes Hemd hochgeschoben und führte eine Herzmassage aus.
Christina drückte Arnes Brust rhythmisch herunter, während Louise das Bett von der Wand abrückte, damit sie besser an den Patienten herankamen. Peter bereitete Medikamente und Spritzen vor. Eine Sozial- und Gesundheitsassistentin aus dem 50er-Gang holte eine Beatmungsmaske, damit der Patient zusätzlichen Sauerstoff bekam. Und eine dritte Krankenschwester sah zu. Es war das erste Mal, dass sie eine richtige Wiederbelebung bei einem Patienten sah. Sie hatte gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen und war neu auf der Station, doch Christina hatte sie aufgefordert, zu bleiben und dem, was passieren würde, beizuwohnen. Es sei gut zu lernen, wie so etwas ablief, hatte die erfahrenere Krankenschwester gesagt.
Schnell kamen die Krankenträger und Ärzte. Christina trat zurück, behielt aber den Überblick. Sie nannte die Eckdaten des Patienten, seine Werte, den Grund seiner Aufnahme, wie sie ihn leblos aufgefunden hatte und wie die Reanimation eingeleitet worden war.
Wenn so viele Profis mit ihrer gesammelten Erfahrung damit beschäftigt sind, den Kreislauf der Person zwischen ihnen wieder in Gang zu bringen, können selbst erfahrene Schwestern und Ärzte den Überblick verlieren. Peter beispielsweise wirkte nervös, als Christina ihn herumkommandierte. Seine Hände zitterten und er ließ versehentlich das Blutdruckgerät auf den Boden fallen. Aber hier konnte Christina glänzen, sie scheute sich nicht davor, das Ruder zu übernehmen, wenn die anderen zögerten. Und es war ja auch sinnvoll, dass sie es übernahm. Wenn es darauf ankam, konnte man auf sie zählen. Das hatten viele auf der Station bereits bemerkt.
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