Es trägt nicht gerade zur Attraktivität des Krankenhauses Nykøbing Falster bei, da es in der Region das Haus mit den wenigsten Spezialisierungen ist. Das Personal wird jedes Mal aufs Neue daran erinnert, wenn es Patienten an andere Krankenhäuser überweist, sobald sie ein komplexeres Krankheitsbild aufweisen. Eine Ausnahme sind allerdings Herzerkrankungen – denn derzeit arbeitet der anerkannte Herzspezialist Peer Grande am Krankenhaus Nykøbing Falster. Vor ein paar Jahren ist es der Krankenhausleitung gelungen, ihn und einige andere prominente Namen vom Kopenhagener Rigshospitalet anzulocken. Auf den ersten Blick ein großer Erfolg für die Region Seeland, würde man die Tatsache ausblenden, dass die Herzspezialisten den Weg in den Süden erst ins Auge fassten, nachdem sie vom Rigshospitalet wegen Unterschlagung und des Missbrauchs von Forschungsmitteln gefeuert und angezeigt worden waren. Peer Grande wurde berühmt als der Arzt, der über zwei Millionen Kronen, die für die Forschung bestimmt waren, unter anderem für private Reisen, Rolex-Uhren und Restaurantbesuche ausgegeben hat.
Das Krankenhaus Nykøbing Falster hat in den letzten Jahren mit verschiedenen Maßnahmen versucht, es zu einem attraktiven Arbeitsplatz für Ärzte zu machen. So wurden zum Beispiel mehrere feste Busse eingerichtet, die die Ärzte zu einem günstigen Festpreis aus Kopenhagen zum Bezirkskrankenhaus bringen, das Ganze unter dem Slogan ‚Zur Arbeit fahren – wie im Schlaf‘. Es wurde ein Personalhotel für diejenigen eingerichtet, die ein paar Nächte bleiben wollten, und die Krankenhausleitung hatte sogar genug Geld aufgetrieben, um die Kantine abends öffnen zu können. Doch obwohl die Stellenausschreibungen konsequent die „Aussicht über den naturschönen Guldborg Sund“ betonten, und obwohl die Website zur Kampagne „Auf, in den Süden“ damit lockt, dass die Patienten aufgrund der „besonderen demografischen Ausgangslage Mehrfachdiagnosen und komplexe Problemstellungen aufweisen, die Sie an anderen Orten des Landes nicht so häufig sehen“, und obwohl das Krankenhaus erklärt, dass es für die Bürger in dieser besonderen Ecke des Landes „eine besonders wichtige Rolle“ spielt, weil „die Entfernung zu anderen Behandlungsmöglichkeiten eine große Herausforderung darstellt“, ist es immer noch nicht gelungen, die Rekrutierungsprobleme zu lösen.
Diese Probleme bestanden bereits, als die junge Krankenschwester Christina Aistrup Hansen 2009 eingestellt wurde. Schon bevor Christina ihre Bachelor-Arbeit geschrieben hatte, wurde sie auf Station M130 eingesetzt. Und kurz darauf versprach ihr Chef, es gebe eine Stelle für sie, sobald sie ihr Abschlusszeugnis vorlegen konnten. Und so bekam sie ihren ersten Job als Krankenschwester am Krankenhaus Nykøbing Falster in dem Sommer, in dem sie als Vierundzwanzigjährige ihre Ausbildung abschloss.
Dieser Ort war ganz anders als die Häuser, in denen sie Praktika absolviert hatte. Der Personalmangel zeigte sich überall. Auch auf Station M130, wo er dazu führte, dass man schneller mehr Verantwortung bekam und als frisch ausgebildete Krankenschwester mehr Dinge selbstständig tun durfte. Christina war nicht von hier. Sie hatte an der Pflegeschule in Herlev studiert und als Studentin am Krankenhaus Herlev gearbeitet. Im Vergleich dazu wirkte das Krankenhaus-Nykøbing-Falster unheimlich klein. Nicht nur, weil es nur etwa zwölf Minuten dauerte, den gesamten Komplex zu umrunden. Christina musste sich auch daran gewöhnen, dass hier alles so klein war, dass sich offensichtlich alle kannten. Wenn man im Krankenhaus Herlev mit dem höchsten Hochhaus des Landes den Aufzug nahm, verbrachte man die Fahrt in der Regel mit Menschen, die man nie zuvor gesehen hatte. In den Aufzügen im Krankenhaus Nykøbing Falster war das nie so.
Christina hatte bald Freundschaften auf Station M130 geschlossen. Und die Arbeit machte ihr Spaß. Sie erfuhr Wertschätzung von ihrem Chef und wurde für ihre Sachkenntnis gelobt. Auch von den Ärzten, denen die Krankenschwester mit dem dunklen Haar auffiel, die im Krankenhaus dafür bekannt war, ehrgeizig und sehr engagiert zu sein. Doch Christina war nicht bei allen gleichermaßen beliebt. Als sie etwa zwei Jahre auf Station M130 gearbeitet hatte, fing sie an, Aufsehen zu erregen. Mehrere jüngere Pflegekräfte auf der Station äußerten, sie nicht leiden zu können. Plötzlich wollten einige von ihnen nicht mehr mit Christina arbeiten. Sie fühlten sich in ihrer Gegenwart unbehaglich, erklärten sie ihrem Chef. Sie hatte „irgendetwas“ an sich, sagten sie.
Als Christina etwas über drei Jahre auf Station M130 angestellt war, entschied sie sich für einen Neuanfang. Sie bewarb sich um eine Stelle in der Notaufnahme im Erdgeschoss. Dort bekam sie den Job, von dem sie seit Langem annahm, dass sie darin richtig gut sein würde. Und das war sie. Wieder bekam sie Lob. Wieder von den Ärzten, die gerne mit der Krankenschwester arbeiteten. Bis es schiefging.
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Im Krankenhaus-Nykøbing Falster besteht die Notaufnahme im Erdgeschoss aus einer lang gezogenen Abteilung, die an den großen Schiebetüren endet, durch die der Rettungsdienst die neuen Patienten auf Fahrtragen hereinbringt.
Man nennt sie die längste Notaufnahme Dänemarks. Das Rückgrat bildet ein langer, gerader, mit Linoleum ausgelegter Gang mit breiten Türen auf beiden Seiten, der in drei Teilabschnitte untergliedert ist. Sie heißen Akut 1, Akut 2 und Akut 3. Drei Abteilungen, die nicht durch Türen getrennt sind und wo die Räume sich dicht an dicht entlang des breiten, von Leuchtstoffröhren erhellten Ganges drängen. Täglich bewegen sich hier rund hundert Angestellte. Der Gang scheint beinahe ins Unendliche zu führen, wenn es hier vor weißen Kitteln, Betten und Geräten nur so wimmelt und man nicht sehen kann, wo der Gang eigentlich endet.
Der erste Abschnitt ist Akut 1. Hier werden die Patienten in Empfang genommen, und hier werden in den Räumen gleich neben dem Wartezimmer Finger genäht, Beine eingegipst und Wunden versorgt. In Akut 1 befindet sich nämlich die Notfallstation. Durch die mattierten Glasschiebetüren werden aus den Krankenwagen die ernsteren Fälle hereingebracht: Unfallopfer, Herzpatienten, Menschen mit Thrombosen, Raucherlungen und anderen lebensbedrohlichen Zuständen.
In Akut 1 werden den neuen bettlägerigen Patienten zunächst gemäß dem Krankenhaussystem Farben zugewiesen, abhängig davon, wie ernst ihr Zustand ist. Das übernimmt eine Krankenschwester, die speziell darin ausgebildet ist, eine schnelle Beurteilung des Zustands der Person vorzunehmen. Die Patienten erhalten die Farbe Rot, wenn ihre Situation lebensbedrohlich zu sein scheint und sofort ein Arzt hinzugerufen werden muss. Orange bedeutet weniger eilig, Gelb noch weniger. Grün bedeutet kaum akut. Nachdem die Farbe in die Patientenakte eingetragen wurde, werden die Patienten zu den Räumen in den Aufnahmestationen Akut 2 oder Akut 3 gebracht – es sei denn, es handelt sich um einen kritischen Fall, der direkt in einem Schockraum behandelt werden muss.
Die beiden Abteilungen verfügen jeweils über sechzehn Betten. Pro Tag rollen die Krankenträger nicht selten fünfzig bis achtzig neue Patienten herein, die in ein Zimmer aufgenommen werden müssen. Das lässt sich nur bewerkstelligen, weil die Patienten in der Notaufnahme nur sehr wenig Zeit verbringen, bis sie an eine andere Station im Krankenhaus weitergeleitet werden. Hier liegen sie allerhöchstens achtundvierzig Stunden, dann müssen sie entweder verlegt oder entlassen werden. In der Notaufnahme sollte man daher nur arbeiten, wenn man kein Problem damit hat, ständig neue Gesichter zu sehen. Doch genau das zieht einige Pflegekräfte und ärztliches Personal am geschäftigsten aller Krankenhausgänge so an. Man nennt die Notaufnahme auch „Einbahnstraße“, weil die Patienten nie hierher verlegt werden, sondern mit Krankenwagen gebracht werden und sich dann in einem stetigen Fluss durch die Teilabschnitte zu den anderen Abteilungen des Krankenhauses bewegen. Hier ist Tempo angesagt. Hier geht es darum, die Patienten schnell zu stabilisieren und unter Kontrolle zu bringen. Ärzte und Pflegekräfte in den Abteilungen Akut 2 und Akut 3 leisten vor allem Detektivarbeit, denn hier geht es darum herauszufinden, was dem Patienten fehlt, der gerade angekommen ist.
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