1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Und dann gab es da noch den Patienten, der mit einer sogenannten Harnretention eingeliefert wurde, also nicht mehr Wasser lassen konnte. Und der dann während der Nacht einen Herzstillstand hatte. Eine knappe Stunde nach dem Mann mit der Infektion im Bein. Für Pernille passte das alles nicht zusammen. Sicher, in einem Krankenhaus starben Menschen. Doch in der Regel können Blutproben und teure Geräte dem Personal einen Hinweis darauf geben, wie akut der Zustand ist, sodass eine Verschlechterung zumindest Pflegekräfte und Ärzte nicht überraschen sollte. An diesem Wochenende gab es nicht nur einen überraschenden Fall. Es waren vier. An einem Wochenende.
Auch Schwester Carina war sehr betroffen, als sie nach Hause ging.
Sie hatte nachts mit Christina zusammengearbeitet. Und als Pernille am nächsten Morgen eintraf, erzählte Carina ihr, wie sie mit der älteren Dame in Zimmer 21 gesprochen hatte, kurz bevor diese leblos aufgefunden worden war. Die Krankenschwester war in das Zimmer gegangen, weil die Patientin an der Schnur gezogen hatte, die neben dem Bett hing. Die Frau berichtete Carina von starkem Harndrang, woraufhin diese ihr erklärte, dass sie einen Katheter hatte, und ihr den kleinen Schlauch zeigte, der unter der Decke der Patientin hervorkam und dafür sorgte, dass sie liegen bleiben konnte. Die Dame war mit der Antwort zufrieden gewesen und hatte sich im Bett zurücklegt. Kaum zehn Minuten später ging der Herzalarm los. Carina und Pernille standen am nächsten Morgen im Personalraum neben der Maschine, in der gerade der Kaffee für die nächste Schicht zubereitet wurde, und sahen einander an, ohne etwas zu sagen. Dann fragte Pernille: „Was macht sie mit ihnen?“
Carina antwortete nicht. Sie fragte Pernille auch nicht, wen sie meinte. Wenn Pernille den beunruhigten Blick von Carina richtig deutete, dachte diese offenbar das Gleiche.
*
Pernille spürte, dass es Christina wie etwas darstellen wollte, das sie beide gemeinsam hatten. Eine Art lustiger Zufall, dass es den Patienten immer dann besonders schlecht ging, wenn sie beide gerade arbeiteten.
Und so schien es ja auch zu sein. Es kam oft vor, dass die Patienten in den Schichten der beiden Krankenschwestern plötzlich zu Notfällen wurden. Aus den SMS, die die beiden Kolleginnen einander schrieben, geht hervor, dass sie diese Tatsache mehrmals betonten. Sie nannten es „den Fluch“.
„Dann hatten wir eine leere Gruppe, und die 200 und die ITS waren plötzlich voll … denke, es liegt ein Fluch auf uns“, schrieb Christina Pernille beispielsweise am 15. Februar 2015.
Die Nachricht war eine Stunde, nachdem Christina ihren Dienst in der Abteilung angetreten hatte und Pernille nach dem Gespräch mit Carina an der Kaffeemaschine nach Hause gegangen war, verschickt worden. ‚Leere Gruppe‘ bedeutet, dass es nun keine weiteren Patienten in den Zimmern an diesem Ende der Notaufnahme mehr gab, an dem sie zuständig waren. Und ‚200‘ und ‚ITS‘ bezeichnen die Herzstation bzw. die Intensivstation, die laut Christina jetzt „voll“ waren. Christina hatte in ihrer Nachricht noch einen blinzelnden Smiley hinzugefügt.
Pernille antwortete: „Oh, um Himmels willen! Ja, das muss wirklich ein Fluch sein.“
Kurz darauf schrieb sie eine weitere SMS an Christina: „Drücke die Daumen, dass du/ihr eine ruhige Nacht habt. Trotz des Fluchs und so. Ich falle jetzt hundemüde ins Bett.“
„Schlaf gut“, antwortete Christina und fügte hinzu:
„Wir sind ja da. Warte nur ab, morgen ist die Abteilung leer.“ Gefolgt von einem kleinen Teufel-Emoticon.
Pernille antwortete nicht. Doch am nächsten Morgen hatte sie eine neue Nachricht auf ihrem Telefon. Diese war um 5:28 Uhr eingegangen, während Christina immer noch in der Notaufnahme Dienst hatte, und enthielt ein Foto von kleinen blauen Zetteln, die mit Magneten an einer weißen Tafel befestigt waren. Die Pflegekräfte nennen sie Zehenzettel. Ein zweites Exemplar wird mit einer kleinen Schnur am rechten großen Zeh verstorbener Patienten befestigt, bevor diese in die Kühlräume gebracht werden. Für jeden Patienten, der in der Notaufnahme stirbt, wird ein weiterer kleiner Zettel an der Tafel angebracht, von der Christina mit ihrem Smartphone ein Foto gemacht hatte.
Auf dem Bild waren insgesamt vier Zettel zu sehen.
„Die Tafel nach unserem Wochenende“, schrieb Christina, als sie ihrer Kollegin das Bild schickte. Die Nachricht enthielt auch ein Symbol, das einen Engel darstellte.
Pernille wusste nicht, was sie antworten sollte.
Allmählich war ihr das alles nicht mehr geheuer.
Katja gehörte zu den Kolleginnen, mit denen sich Pernille am häufigsten umgab.
Sie hatten sich in der Notaufnahme kennengelernt, als Pernille noch Studentin war und Katja gerade ihre Ausbildung abgeschlossen und ihre Stelle angetreten hatte. Seitdem war es eine beinahe tägliche Tradition geworden, dass Katja in Pernilles Einfahrt parkte, eine Hundeleine am Halsband ihres Labradors befestigte und dann, ohne zu klopfen, das Haus betrat, um zu fragen, ob die Freundin Lust auf einen Spaziergang mit den Hunden hatte.
Bei einem dieser Spaziergänge sprach Pernille ihren Verdacht zum ersten Mal laut aus.
Pernille lag Carinas Gesichtsausdruck immer noch schwer im Magen, als sie das Haus verließen. Sie hatte die Herzstillstände vom Wochenende noch nicht verdaut und fand, sie müsse ihrer besten Freundin von ihrer wahrscheinlich völlig absurden Idee erzählen.
Sie kamen zu den Maribo-Seen, an denen sie immer spazieren gingen. Meist traf man hier kaum andere Menschen, sie konnten hier sicher unter vier Augen sprechen. Und dann sprach Pernille es aus:
„Ich glaube, Christina ist schuld.“
Katja selbst hatte das Gespräch auf ihre Kollegin gelenkt. Wie unglaublich es sei, dass Christina immer Geschichten über dramatische Dienste zu erzählen hatte. Katja, die eigentlich nie zur gleichen Zeit arbeitete wie die dunkelhaarige Krankenschwester, hatte in ihren Diensten nie etwas Vergleichbares erlebt.
Pernille hatte sich zunächst mit vorsichtigen Fragen vorgewagt: „Ist es nicht ungewöhnlich, dass sich immer in Christinas Schichten der Zustand der Patienten so verschlechtert?“ Doch Katja hatte nicht angebissen. Während sie dem Pfad folgten, hatte sie stattdessen Christinas merkwürdiges Verhalten angesprochen, das sie an den Tag legte, wenn sie den Patienten zu Hilfe kam. Es war ein Gespräch, wie es wahrscheinlich auch andere Personen auf der Station führten und das normalerweise mit einem nachsichtigen Lächeln endete. Aber jetzt wurde Pernille ernst.
„Ich glaube, Christina tötet die Patienten absichtlich. Ich glaube, das tut sie, verdammt noch mal.“
Ihrer Freundin war dieser Gedanke bisher noch nicht gekommen, sie hatte Christina noch nie so direkt mit den Herzstillständen in Verbindung gebracht. Doch plötzlich schien es auf der Hand zu liegen. Zuerst hatte sie Pernilles Verdacht überrascht. Doch dann war sie mindestens genauso verblüfft darüber, dass sie den Gedanken nicht völlig abwegig fand und das Gehörte nicht direkt verworfen hatte. Sie fröstelte unter den vielen Kleidungsschichten, und das lag nicht nur an dem Winterfebruar, der seinen Namen verdiente. Es könnte etwas dran sein. Und obwohl es doch unmöglich stimmen konnte, hörte sie sich sagen:
„Es passt zusammen.“
Sie kamen auf ihrer üblichen Strecke an eine Stelle, wo die Landschaft sich wieder öffnete und man sehr weit sehen konnte. Katja war noch nicht völlig überzeugt. Aber das war Pernille ja auch nicht. Sie versprachen sich, ihren Verdacht geheim zu halten. So ein Gerücht konnte ein Leben zerstören, wenn es erst im Krankenhaus die Runde machte. Dem wollten sie wieder Christina noch eine andere Person aussetzen. Darüber waren sie sich einig.
Trotzdem vereinbarten sie dort am See, dass sie von jetzt an ihre Kollegin im Auge behalten würden.
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