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Katja war gerade erst aufgebrochen. Die Kälte stieg noch dampfend aus dem Fell des dänisch-schwedischen Farmhundes, als Pernille sich ihrem Freund gegenüber aufs Sofa setzte und erneut über Christina reden wollte.
Eigentlich hatten die Freundinnen vereinbart, niemanden in ihren Verdacht einzuweihen, bis es ihnen gelungen war, einen Beweis für Christinas Verbrechen zu finden oder das Ganze mit eigenen Augen zu sehen. Doch Niels sollte es wissen, fand Pernille jetzt. Der Arzt konnte ihr vielleicht dabei helfen, einen Beweis zu finden.
Zunächst hielt er es für einen Scherz. „Jaja, der ist gut“, sagte er, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. Pernille blieb standhaft. Und Niels ließ sie sprechen. Hörte zu. Und dann wurde er wirklich wütend.
„So etwas sagt man nicht über eine Kollegin. Man behält das für sich“, schrie Niels beinahe und klang jetzt nicht mehr wie Pernilles Freund, sondern wie ein Oberarzt, der eine Krankenschwester belehren wollte. Verstand sie das? Verstand sie das? Niels fragte das so oft, dass Pernille schließlich von Scham überwältigt wurde.
Doch sie gab nicht nach. Sie berichtete von den Patienten des Wochenendes. Erzählte von der älteren Dame auf Zimmer 21, der es immer besser gegangen war, die dann aber auf die Intensivstation gebracht worden war, als Pernille zwölf Stunden später wieder ihren Dienst angetreten hatte. Von dem Mann mit der Infektion im Bein und dem unerwarteten Atemstillstand. Und von dem Patienten mit der Harnretention, der im Krankenhausbett gestorben war.
Auch Niels hatte am Wochenende gearbeitet. Er selbst hatte die Frau auf Zimmer 21 gesehen und ihren Zustand für stabil gehalten. Doch bei der Morgenbesprechung mit den anderen Ärzten hatte man auch über den Patienten auf Zimmer 20 gesprochen, den mit der Harnretention.
Die Schicht davor hatte erklärt, bezüglich der eigentlichen Todesursache nicht sicher zu sein. Niels hatte nachgehakt. An einer Harnretention starb man nicht. Jedenfalls nicht in einem Krankenhaus. Doch nichts deutete darauf hin, dass ein Fehler passiert war. Es waren sofort alle notwendigen Maßnahmen ergriffen worden, gemäß den in so einem Fall üblichen Routinen. Man hatte auch Blutproben entnommen.
Trotzdem wunderte Niels sich. Er hatte den Impuls verspürt, gegenüber den anderen Ärzten laut werden zu müssen, weil er die Situation absurd fand: ein Patient, der wegen Problemen mit dem Wasserlassen aufgenommen worden war und dann unerwartet in die Todesfallstatistik der Station einging. Doch dann hatte er die jüngeren, weniger erfahrenen Ärzte angesehen, die zuständig gewesen waren und jetzt mit am Tisch saßen. Dann die beiden erfahreneren Kollegen, die vorschriftsmäßig hinzugezogen worden waren und ihre Meinung geäußert hatten. Also hatte er wie alle anderen auch genickt, nachdem die offensichtlichen Fragen gestellt, abgewogen und beantwortet worden waren. Sie waren zum nächsten Punkt übergegangen.
Dem Arzt, mit dem Niels ein Büro teilte, blieb Niels’ bis dahin unterdrückter Ausbruch jedoch nicht erspart. Niels fluchte. „Was zur Hölle ist das für eine Geschichte mit diesem Patienten? Das ergibt doch keinen Sinn!“
Doch dann sah er selbst in der Patientenakte nach. Und darin entdeckte er schließlich etwas, was ihn beruhigte: Im Körper des Patienten war es zu einer Freisetzung von Herzenzymen gekommen – ein Zeichen für ein Stressmoment im Herzmuskel. Der Mann musste also auch an Herzproblemen gelitten haben, die höchstwahrscheinlich sein Leben beendet hatten. Eine „unerwartete Herzarrhythmie“, dachte Niels. Das konnte jeden treffen. Es war, als würde jemand einen Schalter umlegen. Dann fielen die Betroffenen im Garten, im Wohnzimmer oder im Bus einfach um, ohne dass es in den Minuten davor Anzeichen dafür gegeben hatte, dass etwas nicht stimmte. Diesen Patienten hatte es also getroffen, als er in einem Krankenhausbett lag. Ungewöhnlich, aber nicht unmöglich, befand Niels. Es ergab Sinn.
Und das erklärte er Pernille. In der Patientenakte hatte Niels nichts Verdächtiges finden können. Aus diesem Grund hatte er auch keine Obduktion beauftragt. „Plötzliche Herzarrhythmie“, wiederholte er seiner Freundin gegenüber.
Niels versprach, in den Krankenhaussystemen zu prüfen, ob er bei den anderen Fällen etwas Verdächtiges erkennen konnte, denn Krankenschwestern dürfen die Patientenakten nicht mehr einsehen, wenn die Patienten nicht mehr auf der Station liegen. Doch als Niels das in den Tagen darauf tat, fiel ihm auch hier nichts Verdächtiges auf. Nichts deutete auf ein Verbrechen hin.
Schließlich konnte er Pernille davon überzeugen, das besagte Wochenende hinter sich zu lassen. Im Gegenzug vereinbarten sie: Ohne jemandem davon zu erzählen, wollten sie versuchen, Christina in einer Situation zu erwischen, die sich nicht wegdiskutieren ließ. Pernille sollte versuchen, ihre Kollegin gut im Auge zu behalten, wenn die beiden Krankenschwestern das nächste Mal zusammen Nachtschicht hatten. Und erst danach wollten Niels und Pernille entscheiden, ob sie die Polizei rufen sollten. So war es sicher das Beste, nicht zuletzt für das Paar. Denn es konnte sich auf ihre Zukunft im Krankenhaus auswirken, wenn sie einer Kollegin so etwas Ernstes wie eine vorsätzliche Tötung von Patienten unterstellten und sich dies als falsch herausstellte.
Zusammen mit Niels sah Pernille in ihren Schichtplan. In weniger als anderthalb Wochen würden Christina und sie ihre nächste gemeinsame Nachtschicht haben. Pernille bekam einen Kloß im Hals. Trotzdem schickte sie ein paar Tage später eine SMS an Christina. Sie hängte ein Foto an, das sie von dem Schichtplan im Personalraum gemacht hatte und auf dem man sehen konnte, dass die beiden Krankenschwestern von jemandem mit einer akkuraten Handschrift in die Felder direkt übereinander eingetragen worden waren. Bis dahin war es noch gut eine Woche.
„Ich traue mich nicht“, schrieb Pernille an Christina und fügte das Icon eines Affen hinzu, der seine Augen bedeckt. Es fühlte sich wie eine Grenzüberschreitung an, diese SMS zu verschicken. Doch sie wollte, dass Christina sich sicher fühlte. Das alles wie immer schien und sie immer noch in ihrem gewohnten Jargon sprachen und über den „Fluch“ scherzten, der über der Notaufnahme lag, wenn die beiden Krankenschwestern Nachtschichten hatten.
Christina reagierte eine gute halbe Stunde später. Ihre Antwort enthielt fünf Smileys – vier, die ängstlich aussahen, und einen, der lächelte.
Und darunter die Nachricht:
„Das wird aufregend.“
Bis zur Nachtschicht sprachen Niels und Pernille häufiger darüber, wie sie sich verhalten sollte. Pernille würde versuchen zu verfolgen, was Christina tat und wo sie sich aufhielt, wenn sich der Zustand von Patienten verschlechterte. Sie sollte darauf achten, wo Christina Beweise hinterlassen haben könnte, und im Medikamentenraum prüfen, ob im Verlauf der Schicht etwas verschwunden war. Außerdem würde sie in den kleinen gelben Abfallbehältern nachsehen, die überall auf der Station standen und in denen das Personal benutzte Ampullen und Kanülen entsorgte. Vielleicht läge etwas darin, was auf ein Verbrechen hinweisen würde.
Insgeheim hoffte Pernille, dass sie überhaupt nichts finden würde. Dass die Nachtschicht ihr nach gründlicher Überprüfung bestätigen würde, dass sie sich das Ganze nur einbildete. Sie hatte Niels versprochen, dass sie dann versuchen würde, ihren Verdacht zu vergessen.
Niels fiel auf, dass seine Freundin immer nervöser wurde, je näher die Nachtschicht rückte. Inzwischen reagierte auch er ganz anders. War er vorher noch vorbehaltslos skeptisch gewesen und hatte die Rolle des Oberarztes eingenommen, der zur Besonnenheit mahnte, hatte die Anspannung nun auch ihn ergriffen. Er musste zugeben, dass ihm das Ganze einen Adrenalinschub brachte. Was, wenn es stimmte? Was, wenn die beiden die einzigen waren, die Christina auf die Schliche kommen konnten? Niels hatte bereits eine Vorstellung davon, wie groß die Medien diese Angelegenheit aufziehen würden.
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