Oberarzt Niels Lundén liebte es, hier in der Notaufnahme „diagnostische Nüsse“ zu knacken. Er war einer der Ärzte, die sich damit abgefunden hatten, dass die Stellenbezeichnung ‚Arzt in der Notaufnahme‘ nicht gerade die prestigeträchtigste war. Doch Niels hatte nie die Flure der besseren Stationen als Ziel gehabt. Im Gegenteil: Schon immer hatte er sich von den Geschehnissen im Erdgeschoss angezogen gefühlt, wo die Krankenwagen direkt vor der Tür hielten. Eben diese Detektivarbeit. Und das Adrenalin. Situationen, die ganz plötzlich außer Kontrolle geraten konnten, in denen man schnell denken und beweisen musste, dass man tatsächlich in der Lage war, das Instrument namens Fachkenntnis zu spielen. Natürlich wusste er, dass es in den Ohren anderer möglicherweise morbide klang, doch Niels war froh darüber, dass er einen Job hatte, bei dem er die meiste Zeit mit den Patienten verbringen konnte, denen es am schlechtesten ging. Den sogenannten „roten“ und „orangenen“ Patienten. Die Tage, an denen besonderes viele davon hereinkamen, waren die besten. Oder wenn es einen Herzalarm gab. Dann spürte Niels, dass er tatsächlich etwas bewirken konnte. Wenn es nach ihm ging, konnte das gerne passieren, während er Dienst hatte.
Als er 2009 als Einundvierzigjähriger seine Stelle in der Notaufnahme am Krankenhaus Nykøbing Falster antrat, war er in den ersten Jahren häufig der einzige fest für die Station eingeteilte Arzt. Niels fand sich auf dem langen Gang schnell zurecht. Er war noch nie einer dieser Ärzte gewesen, die großen Gefallen daran fanden, sich in Fachbücher zu vertiefen oder über tropische Infektionskrankheiten zu diskutieren. Das war schon im Medizinstudium so gewesen, für das er sich erst richtig begeistern konnte, als alles etwas praktischer wurde. Niels verbrachte einige Jahre als Allgemeinmediziner, bis er im Provinzkrankenhaus eine Vertretungsstelle übernehmen konnte. Schließlich wurde er in der Notaufnahme angestellt und fand in der Tätigkeit dort seine Berufung. Denn hier unten ging es nur um die Praxis und nicht um das ganze Gerede. Und hier unten war er erfolgreich, was auch damit zu tun hatte, dass erst später festgelegt wurde, dass Ärzte eine spezielle Ausbildung haben mussten, um in der Notaufnahme zu arbeiten – in Niels’ erstem Jahr in der Abteilung war dies also noch kein Fachgebiet. So kam es, dass er mit seiner Vollzeitstelle schnell einer der Fähigsten auf seinem Gebiet wurde, einem Gebiet, in das andere Ärzte nur kurz hineinschnupperten, wenn sie aus einem der vielen anderen Gänge des Krankenhauses ins Erdgeschoss gerufen wurden.
Dass der heutige Oberarzt nach Nykøbing Falster zog, hatte er einem Zufall zu verdanken. Das Los hatte entschieden. Damals lebte er gerne in Kopenhagen, wo er an der Universität Medizin studierte. Aber das Rotationssystem, über das Medizinabsolventen ihren Pflichtdienst in einem Krankenhaus ableisten müssen, schickte Niels in das kleine Krankenhaus im Süden.
Ein paar Jahre später traf er eine Frau, die die Mutter seiner Kinder wurde und ihn dazu brachte zu bleiben. Die Beziehung scheiterte, doch kurz nachdem er in der Notaufnahme fest angestellt worden war, traf er Pernille. Anfangs hatte es ein wenig Chaos gegeben, weil Niels davon ausgegangen war, sie sei eine neue Krankenschwester. Doch dann stellte sich heraus, dass sie noch studierte und wegen eines Praktikums da war. Auch der Altersunterschied zwischen ihnen von mehr als zwanzig Jahren war problematisch. Zunächst hielten sie ihre Beziehung im Krankenhaus geheim, gaben sie aber nicht auf. Pernille mochte den Oberarzt, der zwar schon grauhaarig war, aber manchmal so kindisch sein konnte, wie sie lächelnd erzählte, wenn sie ihre Wahl gegenüber ihren Freundinnen verteidigte. Und schließlich entschieden Pernille und Niels, sich nicht mehr darum zu kümmern, was die Leute dachten. Sie machten ihre Beziehung offiziell. Und kauften ein großes Haus auf Lolland, inmitten der Felder etwas außerhalb der Stadt Maribo. Es war ein Ort mit reichlich Platz für Übernachtungsgäste, die Kinder aus erster Ehe – Pernille hatte ein Kind mit dem Mann, für den sie seinerzeit von Odense nach Lolland gezogen war – und für den Sohn, den sie bald darauf zusammen bekamen.
Mit ihrer gerade gegründeten Familie blickten Niels und Pernille einer glücklichen, sorglosen Zukunft entgegen. Das galt auch für das Krankenhaus, wo Pernille eine Festanstellung antrat, sobald sie ihre Zulassung als Krankenschwester in der Tasche hatte.
Als die Krankenschwester Christina Aistrup Hansen in der Notaufnahme anfing, stellte Niels Lundén als Erstes fest, dass sie ziemlich hübsch war. Langes Haar, tiefschwarz gefärbt. Immer reichlich Mascara aufgelegt. Ein bisschen fülliger, Kurven, die man nicht übersehen konnte. Sie war fleißig und schien auch kompetent zu sein. Und sie fügte sich offenbar leicht in die Gruppe der anderen Krankenschwestern in der Abteilung ein.
Christina war sehr engagiert. Sie erschien konsequent eine Viertel- oder halbe Stunde vor Schichtbeginn im Krankenhaus. Und wenn sie freihatte, war es nicht unüblich, dass sie die Kollegen anrief, um zu fragen, wie es diesem oder jenem Patienten ging.
Es war deutlich zu merken, dass vor allem die „roten“ Patienten Christinas ganze Aufmerksamkeit bekamen. Also diejenigen, die gemäß der bei der Aufnahme durchgeführten Beurteilung in einem besonders schlechten Zustand waren. Christina wollte gerne in der Nähe dieser Patienten sein. Sie wollte nah dran sein, wenn etwas mit ihnen passierte. Und es gelang ihr kaum, das zu verbergen. Einige Kollegen fanden ihr Verhalten unpassend, zum Beispiel wenn die Krankenschwester den Gang hinauf zu Akut 2 ging, um zu fragen, ob sie dort Patienten in einem schlechten Zustand hätten. Andererseits war Christina eine gute Krankenschwester, und man hatte sie gerne dabei, wenn akute Situationen eintraten und das Personal schnell agieren musste. In diesem Punkt schienen sich alle einig zu sein: Sie war eine gute Krankenschwester. Auch wenn es geteilte Ansichten zu Christinas etwas spezieller Art gab, es zu zeigen.
Die Pflegedienstleistung auf Station M130 war so von Christinas Fähigkeiten angetan gewesen, dass sie sie für die Arbeit in der Notaufnahme nur beurlaubt hatte. So sollte die junge Krankenschwester zurückkehren können, falls sich herausstellen sollte, dass diese Station doch nichts für sie war. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Arbeit dort war etwas völlig anderes als auf Station M130, wo die Patienten gut und gerne vier oder sechs Wochen am Stück liegen konnten, ohne dass etwas passierte. In der Notaufnahme erlebte Christina wieder das Tempo, das sie aus Herlev kannte. Der Gedanke an eine Rückkehr auf M130 rückte in immer weitere Ferne, je mehr Patienten Tag für Tag durch den langen Gang geschoben und in die verschiedenen Räume der Notaufnahme gebracht wurden.
Pernille fing in der Notaufnahme an, als Christina dort schon etwas mehr als anderthalb Jahre gearbeitet hatte. Vom ersten Tag an erlebte Pernille das, was bereits viele vor ihr an Christina bemerkt hatten: Die Krankenschwester hatte ein Talent dafür, sich der Neuen in der Abteilung anzunehmen und zu unterstützen, wenn man etwas brauchte oder nach etwas suchte. Christina, die nun schon seit fast fünf Jahren im Krankenhaus arbeitete, war sehr zuvorkommend und hilfsbereit, auch Pernille gegenüber.
Die siebenundzwanzigjährige Pernille hatte vier Monate zuvor ihr Abschlusszeugnis erhalten und bisher auf Station M130 gearbeitet. Dort oben hatte sie gehört, wie die Kollegen über Christina sprachen. Doch sie hatten selbst nie richtig miteinander geredet, bis sie beide zum ersten Mal zusammen im Dienstplan der Notaufnahme standen. Anfangs fand Pernille Christina sehr nett. Aber sie war auch sehr speziell. Sie war keine der Krankenschwestern, die sprichwörtlich mit den weißen Wänden verschmolzen. Im Gegenteil. Mit ihrem schwarzen Haar, dem starken Augen-Make-up und den häufig recht eng sitzenden Pullovern unter dem Kittel stach sie hervor, sodass die Krankenträger ihr nachschauten, wenn sie ein weiteres Bett durch die Abteilung schoben.
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