Es war wohl doch eine Fügung des Schicksals gewesen, als sie den Namen Grünberg in der Akte las, die auf Klaus' Schreibtisch lag. Ein Cold Case, ein Altfall. Vorbestimmung, sich ausgerechnet jetzt damit auseinanderzusetzen? Und das Foto? Sie kannte es. Woher?
Sie scrollte mit dem Cursor nach oben. Ihr Blick fiel auf eine Überschrift. Tote gefunden , stand da. Und im Untertitel: Nur mit einer Unterhose bekleidet und mit Strumpfhosen gefesselt.
Cora hielt den Totenschein noch immer in der Hand. Sie stutzte, hielt ihn gegen das Licht. Es war radiert worden. Jetzt sah sie es eindeutig.
»Un … b … t«, mehr schimmerte nicht durch. Drunter stand mit Füller und in Druckbuchstaben geschrieben: »Verkehrsunfall mit Todesfolge.«
»Ich wusste es, die kürzeste Horrorgeschichte ist Montag.« Die Frau, die auf der anderen Seite der Computerreihe saß, schimpfte laut vor sich hin. »Jetzt ist das Teil schon wieder hängen geblieben. Verdammter Mist!«
Cora grinste in sich hinein. Sie war so vertieft gewesen, dass ihr die neue Besucherin gar nicht aufgefallen war.
»Ich dachte, so ein Wort darf eine Nonne nicht in den Mund nehmen?«
Die Ordensfrau sah auf. »Wir haben uns gestern schon mal gesehen. Tja, wenn das Teil aber nicht so will wie ich, darf frau schon mal verdammt sagen«, kam es prompt von der Dame, die einen Habit trug und an ihrer Brille ruckelte.
»Kann ich Ihnen helfen, Schwester? Vielleicht kann ich das Problem beheben?«
Cora rollte mit dem Stuhl ein paar Zentimeter zurück und linste auf den Computer.
»Das wäre sehr nett von Ihnen. Ich bin Schwester Ulrike.« Sie strahlte Cora an. »Sehen Sie, der Cursor lässt sich nicht mehr bewegen. Das passiert mir immer wieder mal.«
Cora betrachtete die Maus, folgte dem Kabel mit den Fingern. Dann hielt sie ein loses Ende in der Hand. »Hier haben wir den Übeltäter. Der Stecker war draußen.«
»Vielen Dank, sehr nett von Ihnen. Weil ich auch immer so schusselig bin.«
Kommissariat, Büro
»Dir geb ichs!« Das Gespräch mit Belu hatte Klaus aufgebaut. Und die Idee, Frau Oberstaatsanwältin Trejo mit Informationen zuzuschütten, war genial. Er hatte mit Belu gewettet, dass es höchstens zwei Tage dauern würde und Madame Trejo würde ihn abwimmeln.
Mit einem Lächeln wählte er ihre Nummer.
»Tag, Hofmockel hier. Und hat es geblutet?«
»Wie bitte?«
»Ich hörte noch, wie Sie das am Telefon sagten.«
»Ach so, nein, nein, mein Sohn hat sich beim Fußballspielen langgelegt. Ist nur eine Schürfwunde. Bitte, haben Sie relevante Informationen für mich?«
»Ich möchte Ihnen nur einen kleinen Bericht geben. Ich habe jetzt einen eigenen Ordner angelegt, so wie sich das gehört. Und entsprechende Unterteilungen gemacht. Leider habe ich vergebens versucht, den Herrn ausfindig zu machen, der damals die Tote gefunden hat. Ich versuche es aber noch ...«
Klaus hörte ein Geräusch im Telefonhörer. Hörte es sich etwa wie ein Stöhnen an? Am liebsten hätte er laut gelacht. Trotzdem fuhr er ernst fort. »Sie bekommen aber noch einen schriftlichen Bericht.«
Ehe die Oberstaatsanwältin etwas erwidern konnte, sagte er: »Auf Wiedersehen, einen schönen Tag noch.« Schnell legte er den Hörer auf.
Johannisfriedhof
Cora liebte die Stille von Friedhöfen. Sie musste sich bewegen. Und sie musste nachdenken. So ging sie zu Fuß von den Nürnberger Nachrichten in der Blumenstraße Richtung Johannisfriedhof. Es war ein langer Weg. Dessen ungeachtet verging ihr die Zeit schnell, da sich ihre Gedanken in ihrem Kopf drehten. Langsam streifte sie durch die Gehwege zwischen den Gräbern, las die Namen der Verstorbenen, um sie sofort wieder zu vergessen. Immer, wenn sie für sich sein wollte, kam sie hierher. Das hatte sie schon als Kind getan. Dann konnte sie ihrer Mutter nahe sein, verweilte vor deren Urnengrab. Sie mochte diesen Friedhof, den sie auch als Rosenfriedhof kannte, erfreute sich an den schönen künstlerisch gestalteten Begräbnisstätten. Die Atmosphäre war so friedlich. In einer Broschüre hatte sie einmal gelesen, dass der Friedhof bereits im zehnten Jahrhundert angelegt worden war. Die Grabsteine ruhten liegend, jeder sollte unabhängig von Stand oder Beruf beerdigt werden.
»Denn im Tod sind alle gleich«, murmelte sie. »Auch du, Mutter. Obwohl du dich in edler Gesellschaft befindest. Immerhin sind hier Dürer und Harsdörffer begraben.«
Cora konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sollte sie in die Holzschuher Kapelle gehen? Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß. Kurz verharrte sie vor der Treppe, denn die Kapelle lag durch die vielen Aufschüttungen nach Beerdigungen in diesem Friedhofsteil etwa einen Meter unterhalb des Bodenniveaus. Sie öffnete die Tür, ging hinein, nahm auf einer Holzbank Platz. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Brachte es einfach nicht übers Herz, die Hände zu falten und somit eine Art Glaube zu demonstrieren. Es gab so viele Fragen; sie wollte so viele Antworten. Es wurde Zeit, etwas zu tun.
Die alte Dame ruckelte nervös an der Lesebrille. Die Zungenspitze wanderte vom linken Lippenwinkel zum rechten. Akkurat setzte sie die Buchstaben in die vorgesehenen Kästchen. »Bauwerk in Paris«. Sie überlegte kurz und schrieb dann Eiffelturm. »Kreuzesinschrift mit vier Buchstaben« – bedächtig setzte sie die Buchstaben INRI ein. Langsam legte sie den Kugelschreiber ab, schlug ein Kreuz und murmelte: Verzeihung .
Johannisfriedhof, Kapelle
Cora verließ die Bank, knickste vor dem Auferstehungsaltar.
»Ja, grüß Gott. Aller guten Dinge sind drei. Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
Die Stimme kam Cora bekannt vor. Die Nonne! Wurde sie etwa verfolgt?
»Guten Tag«, antwortete Cora zögerlich.
»Ich bin ja ein bisschen spirituell«, Schwester Ulrike kicherte. »Das hat bestimmt was zu bedeuten, dass wir uns jetzt schon zum dritten Mal über den Weg laufen. Ich bin gerne hier in der Kapelle. Haben Sie Angehörige auf dem Johannisfriedhof?«
Cora nickte, würgte dann »meine Mutter« heraus. »Sie sind unglücklich«, sagte ihr Schwester Ulrike auf den Kopf zu. »Ich spüre das. Möchten Sie mit mir sprechen?«
Cora schüttelte verneinend den Kopf.
»Auch gut. Darf ich Ihnen etwas von der Holzschuher Kapelle erzählen?« Ohne eine bejahende Antwort abzuwarten, begann die Nonne: »Früher war sie eine Pestkapelle. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass die Kapelle einen Meter unter dem Bodenniveau ist.«
Cora nickte. Sie schickte sich an zu gehen. Sie wollte lieber mit ihren Gedanken alleine sein, als sich jetzt einen Vortrag über die Kapelle anzuhören. Das bevorstehende Gespräch mit ihrem Vater lag ihr im Magen.
Ohne sich auf das abweisende Gesicht Coras einzulassen, zog Schwester Ulrike sie am Ellenbogen zur Südwand. »Hier ist Christus als Abschluss des Kreuzweges abgelegt worden. Adam Kraft«, fügte sie noch an. »Lazarus Holzschuher war der Erste, der hier beerdigt wurde.«
»Ich weiß«, antwortete Cora, »ich habe im Heimatkundeunterricht aufgepasst. Die Familie war im Textilhandel tätig. Im Zweiten Weltkrieg ist die Kapelle schwer beschädigt worden.«
Schwester Ulrike klatschte in die Hände.
»Sehen Sie, jetzt lachen Sie wenigstens ein wenig.«
»Ich muss jetzt gehen. Auf Wiedersehen.« Schnell ging Cora weg. Sie drehte sich nicht um. Sonst hätte sie gesehen, dass Schwester Ulrike wissend lächelte.
Literaturhauscafé
»Hi Papa.« Cora trat an den Tisch. Der ältere Herr ließ die Zeitung sinken, sah sie über den Brillenrand hinweg an. Er sagte nichts. Eine unbändige Wut stieg in Cora hoch. Sie beherrschte sich. Warum nur bekam sie so ein komisches Gefühl in der Magengegend, wenn sie ihren Vater sah? Sie konnte sich nicht erinnern, dass er sie nur einmal in den Arm genommen hätte. Gleich nach dem Abi war sie von zu Hause ausgezogen. In ihrer eigenen Wohnung hatte sie das erste Mal das Gefühl, frei atmen zu können. Warum nur kostete es sie Überwindung, ihn Papa zu nennen? Sie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, orderte einen Tee und ein Stück Apfelkuchen. Sie ignorierte den verkniffenen Mund ihres Gegenübers.
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